21. März 2020

Das neue alte „Normal“

Das seltsamste sind die leeren Straßenbahnen, dachte ich heute, als ich im Regen und gut verhüllt alleine durch die Stadt ging, um doch wieder einmal ein paar Schritte zu machen. Gestern beim Strahlewetter hatte ich es mir verkniffen, weil der Blick aus dem Fenster zeigte, dass bei dem geschäftigen Treiben unten der geforderte Meter Abstand kaum einzuhalten gewesen wäre, heute war das gar kein Problem – ich kam unterwegs niemandem näher als zwei Meter. Und staunte die Stadt an. Geschlossene Geschäfte, das kennt man vom Sonntag. Leere Straßen, das kennt man vom Hochsommer. Aber die Straßenbahnen, die vorbeizogen, einige ganz leer, andere mit einem oder zwei oder drei Menschen drin, das kannte ich noch nicht.

Immerhin die Blumenbeete tun so als wär nix, hoffentlich überstehen sie den Kälteeinbruch.

In der letzten Woche hätte mein eigenes Leben kaum anders ausgesehen, gäbe es Corona nicht. Es galt ein Magazin fertigzumachen, und wie immer in den letzten Tagen vor dem Drucktermin klebte ich von früh bis spät am Bildschirm – zu Hause natürlich, wie ich das als freie Mitarbeiterin schon seit vielen Jahren mache. Diesmal sass ich sogar von noch ein bisschen früher bis noch ein bisschen später, denn geplante Geschichten waren inaktuell geworden, anzukündigende Veranstaltungen waren abgesagt und daher nicht mehr anzukündigen, geplante Interviewpartner hatten andere Sorgen oder Wichtigeres zu tun, für all das musste Ersatz her. Einkaufen war ich in der Woche zwei Mal, brav wie ich bin – normalerweise gehe ich doch mindestens einmal täglich runter, schon um in sonst bewegungsarmen Zeiten zumindest einen Sprint in den vierten Stock hinzulegen.

Nebenbei liefen natürlich die Nachrichten. Seit meiner Zeit im Großraumbüro brauche ich immer ein bisschen Grundlärm zur Konzentration. In kleinen Pausen warf ich einen schnellen Blick in den Standard-Ticker oder in die einzige Corona-Chatgruppe, aus der ich nicht nach dem hinzugefügt-werden sofort wieder ausgetreten bin. Der Teil von mir, der nicht mit Arbeit beschäftigt war, war vorwiegend verblüfft. Grenzen geschlossen, Geschäfte geschlossen, Ausgangsbeschränkungen und -sperren, Flugverkehr eingestellt. Das alles klang mehr nach meinen surrealen Träumen als nach Wirklichkeit.

Wundersamer Weise wurde mir statt social distancing von Tag zu Tag mehr social anquatsching zuteil. Bitte, natürlich alles korrekt aus der Ferne, aber dummerweise nicht im Chat sondern am Telefon, denn es handelte sich durchgehend um Netzverweigerer und -innen. Verwunderlich, wie viele Leut‘, von denen ich teilweise seit Jahren nichts gehört hatte, plötzlich ihre Lust an der Kommunikation entdeckten. Erst dachte ich, es wären Zwangsurlauber, denen halt jetzt fad ist, und die sich Sorgen machen um die Menschen, um sich selbst und um die Welt. Ich hörte mir bemüht geduldig sowohl begründete als auch seltsame Sorgen an, Verschwörungstheorien, Revolutionsideen und noch anderes mehr. Dabei entdeckte ich an mir ein ungekanntes Bedürfnis zum Ausgleich. Der mehr oder weniger verzweifelten „Wir werden alle sterben!“-Fraktion erklärte ich, dass das keineswegs passieren würde, wenn wir nur alle ein bisschen brav bleiben. Der „Warum sperren sie uns in, ist ja nur die Grippe!“-Fraktion erklärte ich, dass das alles ein fürchterliches Ende nehmen würd, wenn sie nicht… naja, ein bisschen braver werden würden. Dabei liegt mir das Widersprechen sonst gar nicht so, aber kopflose Extreme liegen mir noch weniger.

Dann verplauderte sich eine der Anruferinnen. Wie es mir denn ginge, „so ganz allein ist das alles ja noch schwerer zu ertragen.“ Da verstand ich dann die Häufung der Anrufe aus der alten weit verstreuten „Clique“, die ich längst aus den Augen verloren habe, weil sie halt online nicht zu erreichen sind. Danke der Nachfrage, ich bin ganz und gar nicht ganz allein, und irgendwie unsicher, ob ich das jetzt rührend oder nervig finden soll. Ein bisschen von beidem irgendwie.

Anyway. Ich hab ja große Hoffnungen, in nächster Zeit ein paar Dinge weiterzubringen, die in den letzten Jahren liegengeblieben sind. In zwei, drei Tagen habe ich meine Wohnung vielleicht soweit, dass ich es auch einmal mit einer Videobotschaft versuchen kann, weil die sind ja jetzt in. Langweilig wird mir jedenfalls nicht, aber das mit der schlanken Linie, das wird so auch nix werden.

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