19. Juni 2020

Bachmannpreis 2020, Tag 2

(Irgendwie fehlt  mir was, wenn ich nicht „live“ auf Twitter mit dabei bin.)

Helga Schubert fängt in dem gefährlich naiven Tonfall an, bei dem man nur allzuleicht etwas überhört. „Vorm Aufstehen“ beginnt als nostalgische Ost-Geschichte voller Gerüche und Geschmäcker. Eine Mutter-Mann-Altersgeschichte. Im Hintergrund zwitschern echte Vögel. Lebendige Geschichte mit intensiven Bildern, in der über die Zeiten mitschwingt, was ich oft irritierend (irritierend oft?) empfinde: Das man doch immer noch dieselbe ist, wie sehr man sich auch ändert. „Alles Gut“, endet der Text.
Winkels beginnt und referiert noch einmal die tddl-Historie von Schubert. Vom Text ist er unmittelbar berührt (wie ich). Tingler gesteht seine Liebe zur Autorin und ihrem Portrait und wirkt erst einmal weichgespült, will aber dann doch wieder unterbringen, was er interessanter finden würde als tatsächlich Geschriebene. Kastberger lobt den Vortrag und das Vogelgezwitscher aus dem Garten. Er findet den Text autobiografisch, was eine der komplexesten Literaturformen sei. Pop-Literatur in gebrochener Form aus der DDR, die zudem eine Aussage über die westliche Popliteratur macht. Schwens-Harrant sieht einen Zusammenhang zwischen dem Tagesanfang und dem Lebensende. Wilke hat eingeladen und findet es faszinierend, wie der Text Frieden machen kann. Tingler beschwert sich über den autobiographischen Aspekt, die fiktive Art eines Text sei sakrosankt. Er sagt das auf eine Art und Weise, als hätte er alleine zu bestimmen und macht sich damit noch unbeliebter. Wilke geht zum offenen Angriff gegen seine untergriffige Art an. Wiederstein kehrt zum Text zurück und findet, der Text mümmelt sich ein, was im Gegensatz zu seiner unterschwelligen Härte stehe. Kastberger ortet bei Tingler ein eindimensionales Verständnis von Literatur.

Es wird einmal“ heißt der Text von Hanna Herbst. Es beginnt als Geschichte der erzählten Geschichten. Dahinter steht eine Beziehungsgeschichte, was mich immer fürchten macht um einen Text, aber die Bilder sind schön. („Du hast gelacht mit einem staubigen Lachen, wie von Geröll verschüttet,…“). Nein, eine Vatergeschichte. Eine Abschiedsgeschichte. Wunderbar.
Erst wollte ich mir den Text von der Jury nicht erklärbären lassen, aber dann habe ich doch noch in die Diskussion reingeschaut. Haben die Juror*innen einen anderen Text gelesen? Wie kann man die Vaterbeziehung in Frage und stattdessen einen Liebhaber in den Raum stellen, wenn da Geschichten drin sind wie:

Wie wir einmal vor dem Abendessen in den Ort gingen, nur um zu spazieren, und wie wir jeder drei Kugeln Eis aßen und du sagtest: Sag das deiner Mutter nicht, weil zu Hause das Essen schon auf dem Tisch stand, und ich verriet uns sehr schnell, es war keine Absicht, das wusstest du. Du sahst meine Mutter an und sagtest: »Mein Schatz, da war ein Magnet  im Eisladen, wir konnten einfach nichts dagegen tun.«

Egon Christian Leitner liest in einer Kirche, oder jedenfalls in einem Gewölbe mit Buntglasfenster. Er wirkt sympathisch, sein Text „Immer im Krieg“ erzählt von IQ und  Wirtschaft, enthält mir aber anfangs ein Haucherl zu viel Jesus. Dann wird’s aber immer besser, auch politisch und soziologisch. Bin ja mal gespannt, ob Deutsche und Schweizer Jurymitglieder irgendetwas davon verstehen. „Tag Monat Jahr“.
Wilke spürt der Ambivalenz des Textes nach. Tingler liegt soweit daneben, dass er (hoffentlich) gleich über Bord fällt. Wiederstein findet, dass der Text gelingt, weil sich der Erzähler in die Perspektive derer integriert, die auch im Sozialstaat kämpfen müssen. Winkels findet noch mehr Ambivalenz. Tingler macht sich noch unmöglicher. Kastberger hat eingeladen und liest den Text radikal (ich auch). Absolut hörenswerter literarhistorischer Exkurs. Zum Schluss meldet sich der Autor. Vielleicht hätte er es lassen sollen, aber mir wars sympathisch.

Matthias Senkel (der war doch 2012 schon mal da!?) lehnt sich schon in den ersten Sätzen unangenehm nah an Ransmayr an. Sein Text „Warenz“ leidet noch zusätzlich unter melodramatischem Vortrag und gestelzter Romantiksprache. Als Nachleserin habe ich das Privileg, nach 5 Minuten zu skippen. Und die Diskussion auch.

Levin Westermann liest aus „und dann„, und das ist vermutlich einer der Texte, die die Leute meinen, wenn sie sagen, dass sie keine Lyrik mögen. Was jetzt aus meiner Sicht nicht gegen den Text spricht, aber auch nicht dafür. Was für den Text spricht, ist sein Rhythmus, ist Surreales wie „und das huhn schnurrt wie eine katze“, ist die lyrische Überhöhung des Gartenalltags. Was hingegen gegen den Text spricht, ist das Name- und Zitat-Dropping, das nörvt. Das schwierige an dem Text sind die Wiederholungen. Manchmal sind sie groß und mächtig und einfach durch und durch richtig. Manchmal sind sie forciert und damit automatisch falsch. Aber trotzdem. Musik. Da ist Musik in diesem Text.

und was die welt
im innersten zusammenhält
ist fraglich
was die welt zusammenhält
ist fraglich und geheim

Tingler beginnt die Diskussion und spricht schon wieder nicht über den Text, sondern über seine Erwartungen. Kastberger ist ein Fan vom „und“ und ordnet es literaturhistorisch ein. Wilke spricht in einer Theoriehöhe, der ich um 1 Uhr nachts nicht mehr folgen kann, aber jedenfalls für den Text. Schwens-Harrant lobt den Vortrag und die lyrische Einordnung der Welt. Tingler… ach, vergessen wir Tingler. Gomringer sieht Anklänge an Haushofers „Wand“ und erkennt: „es geht um das Fühlen“. Wiederstein verbündet sich unerwartet mit Tingler. Aber: „Es ist ein magischer Gesang, in dem man keinen Inhalt verstehen muss“, weiß Winkels.

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