Bachmannpreis 2012 – Tag 1

5. Juli 2012

Das Livebloggen kann ich mittlerweile getrost sein lassen, denn live findet der Wettbewerb auch online reichlich statt – die wichtigsten Stellen dafür sind Twitter, mit dem schönen Hashtag #tddl, und die täglichen Livechats bei Frau Sopranisse. Wenn man dann noch, so ganz nebenbei, versucht, den Punktekatalog der Riesenmaschine im Auge zu behalten (was eigentlich eine Vollzeitbeschäftigung wäre), dann ist man schnell am Aufmerksamkeitslimit – und verpasst am Ende noch die schönen Momente der Texte und die Glitzerkörnchen der Jury. Aber zum Glück gibt’s das ja alles zum Nachlesen und Nachschauen. Man kann sich also als gesetzte Bloggerin ruhig Zeit nehmen, um die Ereignisse zu verarbeiten. Hier die Zusammenfassung vom ersten Tag.

Heuer ist Stefan Moster erste Autor. Er kommt aus Mainz, lebt in Finnland, und ist im Netz (laut google-Suche) nur über seine Werke präsent. In seinem Videoportrait sehen wir Finnland und erfahren, dass der Autor schreibt, um die Welt besser zu verstehen, und um sein Deutsch nicht zu verlieren. Zudem geht es ans und ums Wasser. Sein Text, Der Hund von Saloniki, spielt demnach auch am Wasser, in Istanbul und Saloniki, und daneben noch in einem überfüllten Zug. Meine Freude über einen Reisetext verblasst mit der Banalität des påtscherten Protagonisten. Im weiteren geht es vor allem um den Hund, der sich in den verloren und verwirrt am Strand schlafenden Reisenden verbeißt, ein eher unwahrscheinliches Verhalten eines vierbeinigen Streuners. Nun muss ein Text ja bei weitem nicht realistisch sein, um Kunst zu werden, aber die Rolle des naiven Weltnichtverstehers nimmt man dem Erzähler genau so wenig ab wie die Hundegeschichte, und die Pose des hilflos In-die-Welt-geworfen-Seins wirkt mir ebenso gekünstelt wie der Dreh vom Hund aus Saloniki zu den Hunden in Istanbul.

Die Jury, genauer gesagt Winkels, beginnt überraschend überschwenglich. Es wird viel übers Vergessen diskutiert, obwohl es um Erinnerungen geht. Strigl merkt immerhin an, dass streunende Hunde selten grundlos aggressiv sind. Insgesamt ist die Diskussion deutlich interessanter als der Text.
Merk-würdige Zitate:
Caduff (neu in der Jury): “Was für ein wunderbarer literarischer lapidarer Satz: ‘Er war ein Hund’. Das braucht auch Mut, so etwas hinzuschreiben.”
Jandl: “Ein Hund ist in der Literatur nie einfach nur ein Hund.”
Spinnen (hat eingeladen): “Du bist ein Stück Unerfahrenheit, das am Strand liegt und gebissen wird.” – (zu Jandl): “Jetzt gehen Sie aber an den Text heran wie ein stalinistischer Zollbeamter”

Als zweites ist Hugo Ramnek dran, ein Kärntner, der in der Schweiz lebt. Auch er ist im Netz nur über seinen Verlag und Literaturseiten zu finden, erstaunlich eigentlich. Als Schauspieler ist er natürlich vortragsgewohnt, Einschläferndes stand daher nicht zu befürchten. Sein Text Kettenkarrussel beschwört bunte Exotik vor den Toren einer Kärntner Kleinstadt: Der Zirkus ist gekommen.  Das Karrussel der allerersten Verliebtheit. Streckenweise bisschen kitschig vielleicht, aber dafür ein Spiel mit der Sprache, schöne neue Wörter. Unterschwelllig schamhafte Sexualität des Halbwüchsigen, die “Kellerechse” steht in seltsamem Kontrast zum ältesten Krokodil der Welt, das sich niemals bewegt. Dicht und dennoch unaufdringlich; gebumst wird nur mit Autodrom-Wagen. “I can’t get no satisfaction.” Ein Hauch Kärntner-Slowenen-Thematik am Rande, man möchte sie ihm als Anbiederung an die Vorjahrssiegerin fast übel nehmen, aber dafür kommt sie glücklicherweise zu kärnten-alltäglich an.

Die Jury ist weniger begeistert als ich. Merk-würdige Zitate:
Strigl: “Der innere Hund ist hier die Echse”
Jandl “Der Text selbst ist ein Rummel” (ja, vermutlich gefällt er mir deshalb).
Spinnen: “Ein Text wie eine Marching Brass Band”
Winkels: “Was schön ist, definieren wir hier im Gespräch”

Zum Abschluss des Vormittags kommt Mirjam Richner aus der Schweiz. Bettlägerige Geheimnisse heißt ihr Text, und er ist so einschläfernd, dass ich die Autorin nicht einmal googeln mag. Zwei Lehrerinnen, verschüttet im Schnee, vermeintlich tiefsinnige Betrachtungen, durchbrochen von kastrierter Stahlgewitter-Lyrik. Blut, Tod und schlecht imaginiertes Überleben einer Extremsituation.

Auch die Jury ist nicht begeistert. Merk-würdige Zitate:
Jandl: “Das schwierige am Wahnsinn in der Literatur ist, dass er in der Literatur auch wieder vernünftig werden muss.”
Carduff: “Hanni-und Nanni-Style.”

Den Nachmittag beginnt Andreas Stichmann, Hamburger mit Südafrika-Erfahrung. Er hat immerhin eine Webseite, auch wenn sie recht spartanisch daherkommt. Sein Text, Der Einsteiger (ein Romanauszug), erzählt von zwei jungen (?) Obdachlosen, die sich in einem Abbruchhaus befinden. Das Mädchen ist krank. Der Junge geht einbrechen, oder will einbrechen gehen, verliert sich aber dann in der Beobachtung einer Familie und der Frage, wann es denn “in Ordnung” wäre, diese wunderbar normalen Menschen zu berauben. Wobei am Schluss nicht ganz klar ist, was davon real ist und was nicht. (Möglicherweise ist ja die imaginierte Familienvater-Identität die wirkliche, und das Obdachlosen-Bild die Imagination?)  Ein Text, der mir nach all meinen objektiven Kriterien eigentlich gefallen müsste, aber das tut er nicht, obwohl ich es abends ein zweites Mal mit ihm versuche.

Die Jury ist durchwegs zufrieden, aber nicht begeistert. Merk-würdige Zitate:
Carduff: “Ich kann nicht sagen, dass mich dieser Text produktiv macht.”
Winkels: “Papa, Mama, Kind und der verletzte Einbrecher unterm Sofa – das ist die Kernfamilie.”

Die letzte Autorin des Tages, Sabine Hassinger, kommt aus Berlin und ist Musiktherapeutin. Ihr Text, Die Taten und Laute des Tages, ist einer von denen, die ich mir immer wieder wünsche: Ein Text, der etwas an und mit der Sprache wagt. Dummerweise ist das Wagnis misslungen.  Fragmentarisch, in diversen direkten und indirekten Reden, Halb- und Nichtsätzen wird aus wechselnden Perspektiven die Geschichte vom Tod des Vaters erzählt. Beim Zuhören hoffe ich noch, dass meine Ablehnung am monotonen, furchtsamen Vortrag liegt, aber die Lese-Sonne geht leider auch beim Wiederlesen nicht auf.

Die Juroren wollen erstmal gar nicht. Dann versuchen sie, die Geschichte zu entwirren (Winkels), was nicht unbedingt gelingt, oder driften in eine allgemeine Diskussion über experimentelle Texte ab, was zwar interessant, aber kaum Sinn der Sache ist.

Fazit: Mein Favorit des ersten Tages ist Ramnek, aber den hat die Jury schon rettungslos unter den Tisch geredet. Falls im Hinblick auf die Preisvergabe jemand von Tag 1 dran kommt, wird das vermutlich Hassinger sein.

Eindrücke anderswo:
Auf der Vorspeisenplatte
In der Sammelmappe
Im Literaturcafe gibt es einen Podcast. Ich mag zwar keine Podcasts (Buchstaben! Gebt mir Buchstaben!), aber euch könnt’s ja trotzdem gefallen. (Und gut gemacht ist er allemal.)
Das Zeilenkino

(Weitere Links werden in den Kommentaren gerne gesehen.)

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