Lebst Du noch, Baby Blue?

27. Juni 2023

Nehmen wir den Railjet nach Attnang Puchheim vielleicht, was für eine Endstation. Zürich, München, Roma verblassen. Es ist immer dieselbe Stadt, Schritt für Schritt durch die Dunkelheit, eine leere Straße entlang. Es ist immer Nacht, und immer regnet es. Es sind Leuchtreklamen, die sich in der nassen Straße spiegeln, Laternen vielleicht, oder es ist der Mond.  Früher, Baby Blue, früher waren die Straßen niemals leer. Auch früher war es immer Nacht. Eine gute Nacht, eine bunte Nacht. Eine laute Nacht. Jetzt ist es ganz still. Nur das leise Kratzen von Schuhen auf dem Asphalt. Es ist eine Kälte um uns. Eine Kälte, die anders ist als die Abwesenheit von Wärme. Weiß wie Schnee.

Hie und da geht eine Tür auf und schickt einen Schwall Leben auf die Straße, Licht und Sound, ein herzliches Lachen. Einzelne Worte, ein Küsschen auf eine Wange, schillernd wie ein Blick heimlicher Liebe. Ein paar Fetzen Musik, schwere Metalle hier, zartwildes Quecksilber da. Hörst du das, Baby Blue? Sie spielen unser Lied. 

Menschen im Vorübergehen, Gesichtslandschaften, Lebensspuren, erodiert. Oder unberührt. Ob da vorne nun ein Fluss kommt, oder das Meer, oder eine neue Stadt. Ob die Straße geradeaus in den Sonnenaufgang geht oder sich in Schleifen zu Hochländern aufschwingt. Schritt für Schritt, Baby Blue, immer Schritt für Schritt.

Hier und da flammt an einer Ecke ein Zündholz auf, dann die rote Spitze einer Zigarette. Fremden Rauch einatmen wie eine Diebin, durch die Kringel steigen wie durch eine mystische Tür. Kommst du mit, Baby Blue? Vielleicht haben wir eine Zeitmaschine erfunden.

Oder vielleicht sind wir eingeschlafen und in Bratislava aufgewacht. 

Als wären sie auf einen veritablen Berg gestiegen, packt ein Pärchen in Wanderstiefeln auf der altehrwürdigen Burg sein Essen aus. Methodisch und unberührt von der Aussicht, sie kennen sie schon zu gut. Ein Stück Brot, ein Stück Käse. Sie schält einen Apfel und legt ihm mundgerechte Stücke vor. Das kann alte Gewohnheit sein, oder neuglänzende Liebe. Das sieht man nicht.

Die Liebe, ach Baby Blue, die Liebe. Sie ist entweder vergangen oder sie hätte sein können, war aber nicht. Sie war schön, aber sie war. Sie war ein Gedanke, eine Melodie, ein Echo. Sie lässt sich besingen, beschwören, sezieren, aber immer nur von hinten, niemals von vorn, und von der Seite schon gar nicht. Aus der Ferne lebt sich das Begehren so leicht. Aber dann, Baby Blue. Sie, oder er, wartet vergebens, oder ist schon weitergezogen. Er, oder sie, ist stehengeblieben, hat vergessen, will nicht erinnern. Vielleicht liegt noch ein zarter Hauch von Nähe in dem großen Messingbett. Eine Anmutung von Wärme, die aus dem Traum tropft wie Honig von einem Brot. Vielleicht öffnet sich eine schützende Tür, wenn dunkel der Sturm droht. Vielleicht legt ein Boot am roten Fluß ab und kehrt nicht mehr wieder.

Der Fluß ist unser ewiges Rätsel, denn er bewegt sich immer und ist doch immer am gleichen Ort. Vielleicht ist es der Duft von Diesel, der über das Schiff weht, wenn der Wind dreht. Das Wasser, das mit strudeligen Wirbeln Geschichten schreibt in fremdvertrauter Schrift. Plätschernde Geschichten, wortlos und doch archaisch vertraut. Es sind die Geschichten der Rastlosen, der Weltenwanderer, die in alten und neuen Sprachen immer so klingen wie Schritte auf dunklem, nassem Asphalt. Geflüstert im  Rauschen der Blätter, Geschrien im Getöse der Wogen, Monoton im endlosen Strom der Motoren auf dem Highway. 

Wenn das nur alles wäre, was es zu erzählen gäbe, Baby Blue. Die Welt ist ganz anders geworden, doch die Zeiten gleichen sich. Das Glockenspiel der Freiheit ist längst wieder verstummt. Es sind die Meister des Krieges, sie wüten heute noch. An Pulten sprechen darüber die Meister der Krawattenmode, sie reden und reden und die Welt kümmert es nicht. Das ist nur gerecht, denn auch sie kümmert die Welt nicht. 

Es ist zu spät, Baby Blue, es ist jetzt vorbei. Wir gehen der Zeit aus dem Sinn. Schritt für Schritt. Die Nacht bleibt dunkel. Nur hinter uns weht schwebend ein Gitarrenriff wie die Schleppe eines Hochzeitskleids.  

2 Comments

  1. Danke für diesen Text.
    Deshalb höre ich seit längerem mal wieder Boz Scaggs „Loan me a Dime“ mit dem unvergleichlichen Duane Allman An der Slide-Guitar.Und bin damit dort, wo dieser Text vielleicht herkommt.

    • Oh, was für ein entspanntes Gitarrengustostückl, von dem ich tatsächlich noch nie etwas gehört habe. Nicht einmal vom Künstler. Klare Bildungslücke! Danke dafür, und für’s Lesen! 🙂

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