Chronisch chronistisch

1. April 2005

Dem Licht nachgelaufen, heute, aber es war schneller. Extrem klare Luft, Stadt in Pastell. Am Naschmarkt gutgelaunte Feierabend-Standler. Danach ziemlich weit am Wienbach entlang nach Westen. Am Zeitungs-Kolporteur-Treffpunkt schlagzeilen Krone und Kurier von morgen im Chor “Der lange Abschied” – sie meinen natürlich den Papst. So ist Kottans Einheitszeitung (oder schreibt sich das Einheiz-Zeitung?) doch noch wahr geworden. Daneben grinst ein Rasta-Hund mit Handschuh im Maul. In echt, nicht in der Zeitung.

Komisch, denke ich, dass nun der Papst und Harald Juhnke am selben Tag sterben.

Harald Juhnke habe ich nie gemocht, was vermutlich hauptsächlich daran liegt, dass ihn meine Grossmutter sehr mochte. Irgendwo in mir muss trotzdem ein Funken heimlicher Sympathie glühen, denn mein erster Gedanke beim Blick auf die Nachricht war: Am ersten April zu sterben, das hätte ihm gefallen.

Der Papst dagegen, der ist ja noch nicht richtig tot; der könnte es auch noch über Mitternacht schaffen. Wäre ich Chef-Kardinal, ich würde darauf achten. Im übrigen fällt mir dazu vor allem 1981 ein, das Internat war ja sehr katholisch, erst die beinah hysterischen Messen und Andachten nach dem Attentat; dann ein Katholikentag, auf dem er eine Messe lesen hätte sollen, aber wegen der Folgen des Attentats nicht hat, bilde ich mir zumindest ein, jedenfalls durften wir frei in den Park gehen, und vor der eigentlichen Messe trafen ich und meine damals beste Freundin am Rande des Auftriebs auf ein Hippie-Gör, das auf der Wiese saß und Freundschaftsbänder knüpfte, und meine zwiegespaltene Seele hörte fasziniert zu, wie sie über die Scheiß-Katholen schimpfte und wie sie plante, nach Griechenland zu trampen, sobald sie eine Handvoll von den Bändern verkauft hatte, und ich war schon fast drauf und dran, mich anzuschließen. Sie schenkte mir so ein Band (das ich trug, bis es mir irgendwann in Fetzen vom Handgelenk fiel), aber später auf der Messe habe ich innig für ihre arme, verirrte Seele gebetet, und noch später an diesem Wochenende wurde ich zur Frau, wie man in vielen Kulturen sagen würde; – nein, nicht was ihr jetzt denkt, Sex hatte ich erst Jahre später.

Der Papst war uns ja mehr als ein Heiliger, damals; erste Zweifel verstand ich programmgemäß als Einflüsterung des Teufels (obwohl ich im selben Jahr begeistert die “Kinder vom Bahnhof Zoo” gelesen habe und in endlosen schlaflosen Nächten meine Drogenkarriere in allen Details plante); eine ziemlich verwirrte Zeit, vielleicht normal in dem Alter, mir jedenfalls kam es einzigartig vor, mit 14 Jahren.

Heute dagegen musste ich schon drei Mal den Fernseher abdrehen bzw umschalten, weil ich die Lobeshymnen nicht aushalte, der Papst der ganzen Welt, der Papst der Jugend, ein Sender plötzlich katholischer als der andere; der Papst, der die südamerikanischen Sozial-Priester im Stich gelassen hat, der Papst, der im Zeitalter von Aids gegen Kondome gewettert hat, das sagt ja keiner. Aber immerhin hat er irgendwann zugegeben, dass die Erde eine Kugel ist, der plötzlich nicht mehr sonderlich eilige Vater, das ist ja auch was wert.

All diese Gedanken viel schneller gedacht als geschrieben, das ist normal. In der langsam sinkenden Dunkelheit nach Hause gestrebt. In dem Park, in dem ich ein Graffiti fotografiere, rufen mir zwei Kinder zu, ich soll sie auch fotografieren, nur so; stolz und ein bisschen besitzergreifend legt der etwa 12-jährige den Arm um die Schultern seiner Freundin und grinst verschmitzt in die Kamera, während sie ein bisschen scheu zu Boden blickt, dann fordern sie einen Blick auf das Foto; “siehst du wie gut wir zusammenpassen!” sagt er mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen kann. Ein anderes Mädchen kommt dazu, etwas älter, mit Kopftuch, und fragt verantwortungsbewusst, was ich denn da zu fotografieren hätte; “nur so”, sage ich vorsichtig und bilde mir ein, dass das Grinsen des Bubs eine dankbare Färbung annimmt; “wir gehen jetzt heim!” scheucht sie die beiden, und ich gehe auch, heim, aber nicht ohne unterwegs beim Türken noch Käse und Brot und Oliven zu kaufen. (Zu gerne würde ich das wirklich süße Foto zeigen, aber “man” stellt ja definitiv keine fremden Kinder ins Internet. Manchmal wünschte ich, ich wäre eine Spur naiver als ich bin.)

Stattdessen dieser romantische Stoßseufzer am Straßenrand.

Wie gut das ist, denke ich, während ich darauf warte, an die Reihe zu kommen; wenn die Greißler auch langsam aussterben, wächst doch gleichzeitig ein internationales Geschäftsleben heran, das die Nahversorgung auch nach acht Uhr ermöglicht; hier kaufen Inländer wie Ausländer gerne ein, wenn der Billa erstmal zu hat, und es herrscht eine geradezu betonte Freundlichkeit zwischen den Kulturen. Barbara Frischmuth fällt mir ein, mit “Kai und die Liebe zu den Modellen”, ein Buch, das mir geschenkt wurde, als ich noch ziemlich ahnungslos am Land lebte; die kleine Einwandrerin, die ihre Geschwister betreut und später auch den Kai; meine erste Begegnung mit dem “Multikulti”-Gedanken, glaube ich. In der Freitagabenddämmerung im fünften Bezirk jedenfalls kann ich den Gedanken an die gegenseitige Befruchtung der Kulturen fast genau so schillernd sehen wie damals in diesem Buch, auch wenn mir in meinem bunten Leben schon so manche Realität zwischen die Träume geraten ist.

Dann zu Hause noch nachgeschlagen, ob all das, was ich unterwegs erinnert habe, zumindest halbwegs einer geschriebenen Geschichte entspricht: Und in der Tat, das tut es. Auch wenn ich mir angesichts der Tatsache, dass ich mich ziemlich genau an das erinnern kann, was vor 23 Jahren passiert ist, ziemlich alt vorkomme: Das Gedächtnis funktioniert noch. Immerhin.

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