Die Nacht ist die einzige Zuflucht der Wahrheit. Die Nacht ist ein Rotkäppchenkorb voller Traumgeschichten. Die Nacht ist dein letzter Freund, wenn du alleine zurückbleibst. Die Nacht ist die einzige wirklich bewusstseinsfördernde Droge.
Vielleicht hast du nicht aufgepasst und bist hineingestolpert. Vielleicht war es der Wind, wie eine Hand auf deiner Schulter, der dich hierhergeleitet hat. Vielleicht war es das Lächeln der zweiten Mondkugel, das zwinkernd auf dem silbernen Spiegelsee liegt. Das Wasser tröstlich kühl auf deiner Haut. Deine Bewegungen leuchten flüssig nach. Aus reiner Gewohnheit versuchst du zu schwimmen, aber du bist schon versunken, atmest das Wasser genau so selbstverständlich wie eben noch die Luft.
Vervielfachtes Nachtsternlicht weist dir den Weg zu einem versunkenen Schiff. Mühelos gleitest du durch das lebendige Wasser, an den verrotteten Deckplanken entlang, hinein in den beinah verlassenen Salon. Hier wartet deine Zwillingsschwester mit einem Glas Wein in der Hand.
Die weichen Lehnstühle haben die Zeiten unversehrt überstanden. Ein herbeigedachter Kellner mit leeren Augen bringt Austern und Champagner. Die Gänsehaut ist kein gutes Zeichen. Das Lächeln des Kellners verschwimmt zu einem Totenkopfgrinsen. Sein Frack hängt in Fetzen von blanken Knochen. Das Licht fließt aus dem Raum, nur deine Augen werfen noch einen Schein, der schnell schwächer wird. Ein dunkles Ende ohne Romantik, eine Angst ohne Lust, kalt und endgültig. Dann nichts mehr.
Doch. Stimmen. “Angst..verletzen…” Es wird heller hinter den Augenlidern. Du wagst sie aufzumachen. Ein Schwarm von schillernden Weisheitsfischen schwirrt um dich herum, durch dich hindurch. “Nur die Angst kann dich verletzen!” Deine Schwester lächelt noch immer. Mit ihrer langsamen Handbewegung wird das Schiff zum Gedächtnispalast. Raum um Raum ein Museum der Erinnerungen. Gemälde, Statuen. Film- und Tonbandrollen. “Nein” sagst du, greifst nach der Hand der Schwester, und sofort verschwimmt ihr ineinander, werdet eins. Das “Nein” und das “Ja”. Das Licht und die Dunkelheit. Du spürst wie ihre Stärke dich schwächt. Darauf hast du gewartet, Nacht um Nacht. Davor bist du geflohen Tag für Tag.
Deine ihre Hand berührt eins der Bilder, ein Porträt, die Leinwand wird Haut unter den vorsichtigen Fingern, der ernste Mund verzieht sich zu einem Lächeln, “es geht mir gut” wiederholt er monoton, “es geht mir gut”. Hinter seinen Augen die Zitteraale der Vergangenheit, einer entkommt und versetzt dir einen Schlag, bevor er in die dusteren Zimmerfluchten verschwindet, erschrocken ziehst du die Hand zurück und wanderst weiter. Ein langer dunkler Gang mit nichts darin, nur ein paar Kritzeleien an der Wand, schemenhaft. Fast gegen deinen Willen streifst du an einem Schriftzug entlang, der kurz aufgleißt. “Zu wissen, dass die Sehnsucht der Sinn des Lebens ist, ist das Privileg der halbbesoffenen Träumer”, finster ist es dort und laut, verdammt laut, nein, hier ist keine Erkenntnis versteckt, du schüttelst die Hand als hättest du in einen Ameisenhaufen gegriffen.
Viele flüchtige Eindrücke später suchst du den Ausgang, hier ein holzgetäfeltes Kinderzimmer, dort ein steriler weißer Korridor der nach Krankenhaus riecht, endlich in einem riesigen endlos hohen Saal ein Pokal voll Sand. Du greifst hinein und läßt die heißen Körner durch die Finger rieseln, hier ist deine Zuflucht, die Wüste, das große leere Land der unbegrenzten Blicke. Du atmest auf.
Dann heißer Minztee an einem blankpolierten Metalltisch, am Horizont die Berge. Dorthin willst du aufbrechen, aber das letzte Sandkorn ist wieder in seinem Pokal, hier stehst du steht ihr im Gedächtnispalast, ein wenig verloren jetzt. Die Stille der letzten Stunden Tage Jahre wird erst bewusst, als plötzlich Stimmen da sind, nein, nur eine Stimme. Wer spricht hier, in deinem persönlichen Museum der glücklichen Misserfolge?
In einem blauen Zimmer findest du ihn, es ist der Geschichtenerzähler, er fabuliert ganz für sich alleine, gegen das Vergessen, gegen das Erinnern, seine Augen leuchten und er lacht, als er dich euch sieht, das gute Lachen, nicht das dunkle, ohne dabei mit seiner Geschichte aufzuhören. Du bleibst an der Tür stehen, befangen und unsicher, aber deine Schwester löst sich von dir, geht hin und läßt sich zu seinen Füßen nieder, wo die weichen orientalischen Polster sind. Sie zündet Kerzen an, eine nach der anderen, ein Meer von Kerzen, die zeitlupenartig Wabern in der flüssigen Luft. In einer Ecke döst die Laute des Barden, tönt aus dem Halbschlaf schwebende Muster zwischen die Worte.
Hinter dir draußen vor der Tür schnattern aufgeregt und empört die schemenhaften Erinnerungen, dieser Raum gehört nicht hierher gehört in das andere Museum das Museum der ungelebten Träume! Aber sie haben keine Macht, können die Schwelle nicht überwinden. Eine Weile bleibst du stehen, lauschst. Du könntest hingehen dich zu deiner Schwester setzen die Zeiten wieder eins werden lassen. Du könntest dich hinter den Geschichtenerzähler stellen die Geschichten bunt malen unschuldig bleiben für alle Zeit.
Aber schon wirst du durchsichtig, beginnst zu verschwinden. Hast gerade noch Zeit, einmal durch den Raum zu streifen, deine Schwester blickt lächelnd zu dir auf, auf bald! hörst du sie denken, spinnst ein zartes Ideentuch um die verborgenen Kaltgedanken des Geschichtenerzählers, greifst nach einer Kerze um ein bisschen Lichtgesang mitzunehmen in deine eigene stille Nacht. Schon bist du zu leicht geworden, tauchst auf, brichst wie ein Störenfried durch die spiegelglatte Oberfläche des Sees und malst Ringe auf das Wasser, die viel zu viel von dir erzählen.
Du bist sehr müde jetzt. Wie gut, dass am Ufer diese Hütte steht. Jemand hat dir eine Mahlzeit hinterlassen, im Kamin brennt ein Feuer, und das Bett ist warm und weich.