28. Dezember 2003

Wein-Achteln

Das christlich-heidnische Mittwinter-Fest wird hier nicht gefeiert & auch nie gefeiert werden. Die Tage kann man dennoch angenehm verbringen. Zwischen Bett und Couch und Esstisch, gemeinsam mit dem Sufi, jeder hat sein Buch, aber teilweise haben wir auch eins gemeinsam, dazu herzlichst eingeladen die Reise-Journalisten hauptsächlich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: So liegt das Navajo-Reservat nur 3 Meter entfernt von der Seidenstraße, der nervtötende Schlangenfänger im Amazonasbecken wird skrupellos ausgetauscht gegen eine unvergessliche Fahrt mit dem Eisbrecher, und für Herrn Ruge in Sibirien, da legen wir die Bücher auch einmal zur Seite. Wir begleiten mit Werner Herzog einen Kampfjet-Piloten in die vietnamesische Gefangenschaft, das ist schmerzhaft ungefährlich, denn der hat es ja überlebt. Die durch etliche Gläser Slibowitz von den üblichen Hemmungen befreite Chronistin notiert im sinnlich schönen schlauen Buch:

Wenn jemand also eine Geschichte erzählt, und diese Geschichte spielt im kriegsgebeutelten Vietnam, dann würde ich (nahezu, oder doch nicht; oder doch ganz?) alles dafür geben, zu erfahren, wie ich unter diesen Bedingungen gelebt, gesehen, gehandelt und wahrgenommen hätte: Aber wenn es nach den Göttern meiner Kindheit ginge, wäre das eine Todsünde. Ich kann nicht glauben, dass der Wunsch nach Erfahrung eine Todsünde sein kann.

Anschließend kann man dann, nur ganz leicht traumbegleitet von Gewissensbissen, ganz wunderbar lange und schnapstief schlafen, bis spielende Eisbären-Kinder auf dem Bildschirm den nächsten Tag einläuten, der sich – in der uhrzeitgesteuerten Wirklichkeit – eher schon seinem Ende zuneigt, und dessen Bildschirm-Höhepunkt in einer kamerabegleiteten Kilimandscharo-Besteigung besteht: die wiederum vom Sufi mit Computer-Bildern seiner Kilimandscharo-Besteigung begleitet werden (“das Lager da war richtig gemütlich, aber danach wird’s wirklich grimmig…”), während in meinem Kopf, und ausschließlich dort (weil es außer mir offenbar keiner kennt; auch mein Filesharing-Programm kennt es nicht), das kitschigste aller Bergtod-Lieder ertönt:

“…Les neiges du Kilimandjaro.Elles te feront un blanc manteau,Où tu pourras dormir.Elles te feront un blanc manteau,Où tu pourras dormir, dormir, dormir…

“Eigentlich würde ich gern noch einmal da rauf gehen”, schwärmt der Sufi, “aber nicht über die Coca-Cola-Route, sondern von drüben aus Kenia. Man müßte dann zwar eigene Guides und Träger mieten, aber es wäre ein ganz anderes Erlebnis, ein ganz eigenes Erlebnis”.

Der Loser auf dem Bildschirm hat den Gipfel im Gegensatz zum Sufi nicht erreicht (was der Sufi selber so nie sagen würde), und wir driften weiter, mit einem simplen Druck auf die richtige Taste der Fernbedienung, nach Norwegen. Wo ein kleines Kohlenbergbau-Dorf ausschließlich von Russen bewohnt wird, die nichts anderes wollen alles heim, sagen die Lieder und sagen die Gesichter vor den Kameras, während die Mamutschka im Glashaus Tomaten züchtet.

Wie viele Leben es gibt, und wie viele Geschichten,

notiert die zu diesem Zeitpunkt höchstens von Kaffee berauschte Chronistin,

…und warum mein eigenes durchaus auch seltsames Leben nicht auf die Art seltsam ist, die es erlaubt, einen sehenswerten Film darüber zu drehen…

…der Sufi öffnet den Champagner, zu keinem Anlass als dem, dass es gerade passt; auf dem Bildschirm sind wir mittlerweile in Kasachstan, und es geht sympathischer Weise nicht um die Politik dort oder um die Wirtschaft, sondern ausschließlich um die Menschen:

… sondern nur auf die Art seltsam, die es mir unmöglich macht, wichtig zu sein – ich kann nur beobachten, rezipieren, berichten, darüber hinaus existiere ich nicht. Das ist es, was ich an mir hasse.

Der Sufi prostet mir schulterzuckend zu und ich ihm; derweilen im Trans-Himalaya lächelnde Mönche Holzbretter über einen zugefrorenen Fluss zum Kloster schleifen, in dessen Gästezimmer es winters heimelige -16 Grad hat.

“Eher würde ich mich erschießen lassen”, sage ich zum Sufi, “als freiwillig 90 Kilometer über diesen zugefrorenen Fluss zu diesem Kloster zu latschen, in dessen Gästezimmern es Minusgrade hat.” Der Sufi schaut skeptisch. “Versteh mich nicht falsch”, sage ich, “ich hätte kein Problem damit, 900 Kilometer durch irgendeine Wüste zu latschen. Vorausgesetzt es gäbe genügend Zeit. Und genügend Wasser.”

Der Sufi schenkt vom Champagner nach, und einen Daumenklick später gefällt es mir viel besser im russisch-kasachisch-kirgischen Marij El, wo die Menschen seltsame Lieder singen, aber trotz wirtschaftlicher Probleme guter Dinge sind, weil sie ihre Kultur “jetzt endlich wieder leben dürfen”.

Immer so weiter rund um und quer durch die Welt, samstäglicher Ausflug auf den weihnachtsmüden Wiener Naschmarkt, der auch ziemlich weltenbunt erscheint; so läßt sichs leben, und um die eigene Gesundheit kümmere ich mich gerne nächstes Jahr. –

Aber es ist nicht nur schön in der naheliegenden Ferne. Im Iran hat es verheerend ge-erdbebt, man hält die Luft an bis klar wird, dass es nicht dort war, wo Freunde vielleicht sein könnten; dann erst, ganz leise, die Erkenntnis: Ist dir klar, dass wir genau jetzt genau dort sein könnten, wenn wir die Reise nicht verschoben hätten? Trümmer, Tränen, Tod am Bildschirm und schuldbewusste Erleichterung.

Jetzt noch Silvester. Dann wieder Alltag. Endlich.

 

1 Comment

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Previous Story

Realitätsnah

Next Story

Halb erzählt