Was heute nicht geschah

28. Januar 2021

Niemand hat angerufen und mich für eine Lesung engagiert, in kleinem, aber erlesenen Kreis. Niemand hat vorgeschlagen, ich solle eine Auswahl an Texten mitbringen, eigene natürlich, aber auch fremde, gerne französischen Ursprungs, dem Alter des Publikums angemessen, 60er und 70er-Jahre vielleicht. Niemals habe ich zugesagt.

Ich habe nicht länger als sonst geduscht, habe mir nicht die Beine rasiert, die ohnehin niemand sehen würde. Sorgfältig eingecremt habe ich mich auch nicht.

Habe nicht die lange unbenutzte Wimperntusche herausgesucht, den Lidstrich auch nicht, und Puder und Lippenstift schon gar nicht. Bin nicht leise fluchend vor dem Spiegel gestanden, weil der Lidstrich nach dieser langen Pause schlecht von der Hand ging.

Auch bin ich nicht lange vor dem Kasten gestanden und habe mich schlussendlich für das kurze Kleid entschieden, das mir jetzt nach Jahren wieder passt. Niemals habe ich minutenlang darüber nachgedacht, ob die schwarzen oder die anthrazitfarbenen Strümpfe besser dazu passen.

Ich habe nicht lange nach dem kecken, schwarzen Hut gesucht, und ich habe ihn auch nicht nicht gefunden. (Gefunden habe ich ihn aber auch nicht.) Habe nicht entschieden, dass die Blumenkind-Kappe ohnehin besser den mystifizierenden Bruch ins Outfit bringt, der diesem noch gefehlt hat. Habe nicht entschlossen zur Totenkopf-Kette gegriffen, um die Kontraste zu verstärken, und auch nicht nach den entzückenden Ohrringen gesucht, deren Bedeutung sich ohnehin nur mir selbst erschlossen hätte.

Ich habe mich nicht zufrieden im Spiegel betrachtet und „ziemlich OK für mein Alter“ gedacht. Ich habe nicht zweifelnd zwischen den warmen und den eleganten Schuhen hin- und hergeschaut, und ich habe mich ganz bestimmt nicht für die eleganten entschieden. Ich habe nicht den Mantel für die guten Gelegenheiten angezogen, und ich habe auch nicht minutenlang an ihm herumgezupft, bis er den richtigen Sitz hatte. Ich habe auch nicht meine einzige Beinahe-Damenhandtasche vom Staub befreit, die sich von einer tatsächlichen Damenhandtasche durch ihre Größe unterscheidet. Habe nicht den Inhalt der Wanderjackentaschen und ein paar Bücher und mein Schminkzeug in diese Tasche umgeräumt. Und ich habe diese Tasche auch nicht genommen und bin ohne jeden Zweifel nicht so aus dem Haus gegangen, in den unerwarteten Schneeregen, der Schuh- und Mantelwahl hohnlachend kommentiert hätte.

Selbstverständlich bin ich nicht auf den ungewohnten Absätzen trotzdem zum Bus gegangen. Natürlich habe ich nicht den Bus gewählt, um ein bisschen mehr Vorbereitungszeit zu gewinnen. Ich bin keinesfalls mit meiner schwarzen Maske in diesem Bus gesessen und habe mich gefragt, was ich da eigentlich mache, und ob die Maske mein Make-Up verschmiert.

Unvorstellbar, dass ich aus diesem Bus gestiegen wäre und mich auf dem Weg zum konspirativen Treffen gefreut hätte, die Kappe zu tragen und nicht den Hut, weil erstere zumindest den Kopf trocken hielt. Kein Gedanke daran, die vereinbarte Telefonnummer anzurufen und gleich darauf eine Tür aufgehen zu sehen. Der Gastgeber hat mir nicht mit den Worten „Sie sind ja völlig durchnässt!“ den Mantel abgenommen und mich in den Salon gewiesen, wo Champagner und echter Kaviar im Lusterlicht glitzerten. Niemals hätte ich lächelnd ein Glas Champagner getrunken, den Kaviar aber vor der Lesung abgelehnt.

Ich habe mich nicht mit bedacht züchtig überkreuzten Beinen an den Lesetisch gesetzt und ich habe auch nichts vorgelesen. Meine Texte nicht, die von Henry Miller nicht, und die von Anaïs Nin schon gar nicht.

In der Pause habe ich nicht verschmitzt sphinxgelächelt, als man mich fragte, ob ich nicht auch einmal Ähnliches geschrieben hätte wie Frau Nin. Ich habe nicht weiterschweigend nach einem zweiten Glas Champagner gewunken, als der Fragesteller insistierte.

Keineswegs habe ich mit aufmerksamem Blick zugehört, als das geschätzte Publikum nach der Lesung sinnierte, wie die Texte mit dem eigenen Leben korrelieren. Ich habe nicht kühl lächelnd das Angebot des Gastgebers abgelehnt, der mich vor weiterem Regen durch eine Einladung in seine Gäste-Suite bewahren wollte.

Natürlich bin ich aber auch nicht in meinem nässer werdenden Mantel und den unbequemen Schuhen zurück nach Hause gewandert, und auf gar keinen Fall habe ich darüber nachgedacht, wie schön dieser nie gewesene Abend noch hätte werden können.


Vielleicht hätte ich ja sagen sollen, aber vielleicht ist mir das Ja auch nur an der falschen Straßenecke aus der Tasche gefallen. Vielleicht war es eine Frage des Preises. Zu hoch, zu niedrig? Und für wen? Wer weiß das schon.

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