29. Juni 2025

Von Wimmelbildern und Kornfeldern (Bachmannpreis 2025/2)

Der nicht so heiße Samstag beginnt mit Nora Osagiobare. Ob das Ei im Videoportrait ein Augenzwinkern an Sharon Dodua Otoo ist, frage ich mich. Das Portrait endet auf: „Vielleicht wird irgendwann auch mich die Welt einholen. Vielleicht aber auch nicht.“ Und das gefällt mir schon.

Ihr Text heißt „Daughter Issues„. Ob ein Vater für 1 Million den Kontakt zu seiner Tochter abbrechen würde, soll die Frage einer neuen Reality Show sein, die die Protagonistin pitcht. Ich kann mit der klischeehaften Sekt- und Koks-Welt im Umfeld der Fernsehstudios sehr wenig anfangen, auch wenn es (diesmal auch für mich erkennbare)Satire ist, am ehesten noch bringe ich etwas Sympathie für den traurigen Vater auf, den die Tochter verachtet (?). Auch sprachlich kann mich der Text nicht überzeugen. Die Jury ist ziemlich begeistert, außer Tingler. Dass ich mit Tingler einer Meinung bin, könnte aber durchaus bedeuten, dass ich völlig falsch liege.

Nora Osagiobare wurde dafür mit dem KELAG-Preis ausgezeichnet.


Almut Tina Schmidts Videoportrait spielt nicht nur in Erdberg, sondern auch mit Perspektiven. Sie liest „Fast eine Geschichte„. Der Titel erinnert mich an mich. Die Protagonistin, die von den anderen Hausbewohnern viel weniger weiß als alle anderen übereinander wissen, erinnert mich auch an mich.

Kaum hatte ich mich daran gewöhnt, dass Martina Martina war und zusammen mit Alex im dritten Stock ganz rechts wohnte, hatten sie auf einmal ein Kind.

Ich habe große Freude an dem Text und werde ihn sicher nochmals lesen, um all die kleinen Miniaturen zu finden, an denen man leicht vorbeihört.

Stoffwechselangelegenheiten beschäftigten uns in den folgenden Jahren – Jahre, die sich zogen, bis sie verflogen waren.

(Dabei fällt mir auf, dass die Bachmanntexte heuer durchwegs ohne Blut, Schweiß und andere Körperflüssigkeiten auskommen, also fast – ein bisschen Erbrochenes und die eine oder andere Träne machen die Sache kaum weniger sauber.)

Die Jury ist durchwegs erfreut. Sanyal sieht ein Wimmelbild, Strässle spricht von „nicht erfüllten Erwartungshaltungen“, eh wie im richtigen Leben, denke ich, und sieht unter dem Text vieles brodeln. Kastberger spricht von Care-Arbeit und ich bin irritiert, weil ich zuerst Kehr-Arbeit verstehe (letztere kommt nicht im Text vor). Zudem verlangt er ein neues Literaturgenre zum Aufbauen von Möbeln. Tingler nennt „Sibylle trug eine Frisur, die ich noch nie an irgendeinem Menschen gesehen hatte“ den schönsten Satz des Textes, damit kann ich mich immerhin wieder von ihm distanzieren. Schwens-Harrant sieht das Zeitraffen und die Verbindungen im Text als große Kunst und lobt den Rhythmus, der mir auch gut gefallen hat.

Almut Tina Schmidt durfte sich über den 3sat-Preis freuen.


Tara Meister erklärt im Videoportrait anhand eines Plastikmodells die Klitoris, auch die Früchte am Schluss erinnern an weibliche Geschlechtsorgane. Ihr Text „Wakashu oder“ ist lyrisch schwebend und doch wie ein Horrorfilm mit zu gut bekannten Motiven.

Wir wussten, dass es in den Feldern gefährlich war. Mädchen verschwanden zwischen den Ähren und kehrten nie zurück. Die Älteren im Ort warnten uns davor. Die Freundin wollte immer weiter hinein.

Ich bin sprachlich beglückt und inhaltlich verworren. Der Text ist ein bisschen wie Bachmannpreis früher, man muss sehr genau hineinhören, um die Geschichte herauszuhören, und ich fürchte, dass die Jury sich gleich darüber beschweren wird, dass das alles zu schwer verständlich ist, werde aber von den meisten positiv überrascht.

…ist ein guter Hinweis zum Schluss.

Tara Meister wurde für ihren Text zur Carinthischer Sommer Festivalschreiber:in gekürt.


Ich ertappe mich dabei, zu hoffen, dass der letzte Text nicht auch noch gut ist, ich habe schon genug Entschedungsschwierigkeiten in Sachen Publikumspreis. Aber der letzte Text heißt Kindheitsbenzin, kommt von Boris Schumatsky und ist auch noch richtig gut. Eine Kindheit in Moskau, vom schreibenden Protagonisten von Berlin aus betrachtet, während dessen geschriebener Protagonist nach Moskau zur Mutter fliegt, obwohl ihm dort die Verhaftung droht. Telefonate mit Auslassungen.

Meine Mutter spricht eine Sprache, die Angst vor ihren eigenen Wörtern hat.

Und die Frage nach dem Schreiben in der eigenen oder in fremden Sprachen.

Meine Mutter und ich sprechen Russisch miteinander. Mama ist stolz darauf, dass ich in einer anderen Sprache schreibe. Sie weiß nicht, dass ich mich ständig frage, ob ein Satz, zum Beispiel dieser, richtig oder zu russisch klingt. Ich fliege nicht zu meiner Mutter, aber ich kann jetzt etwas anderes für sie tun. Ich werde nicht mehr versuchen, alle Spuren der Muttersprache aus meinem Deutsch zu tilgen.

Die Jury findet den Text auch stark, und Boris Schumatski hat dafür den Deutschlandfunkpreis erhalten.


Ein exzellenter Jahrgang also, die Bachmannpreis-Teilnehmer*innen 2025. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich jemals schon so durchgehend zufrieden mit der Textfülle war. Ich glaube nicht. Es gab nur zwei Texte, die mich nicht freuten, und das macht sie noch nicht zu schlechten Texten.

Zum Abschluss noch eins meiner zahlreichen Bachmannpreis-Gekritzel.

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