16. August 1997

U2 Popmart in Wiener Neustadt

Vorgeschichte

Ein warmer, erfreulicherweise nicht schwüler, sonniger Spätsommernachmittag. Ich bin auf dem Weg nach Wiener Neustadt, zum Flugfeld, wo heute die größte Pop-Band aller Zeiten auftreten wird: U2. Die größte Pop-Band aller Zeiten, so nennen sie die Zeitungen, so nennen sie sich selbst, offenbar ein bisschen ironisch – und dann doch wieder nicht.

Ich bin kein Fan, mag manche Nummern sehr gern, kann anderen wenig abgewinnen mit ihrem plakativen Pathos, ich bin unterwegs, weil ich einmal ein Riesenkonzert sehen wollte, einmal bei einem Megahype dabeisein, 70.000 Leute wurden ja erwartet (73.000 sind es laut Veranstaltern geworden, wahrscheinlich aber mehr, denn ich habe 5 ticketlose über den Zaun klettern gesehen, und hochgerechnet auf die Länge des Zauns und die kurze Zeit, die ich mich in seiner Nähe aufgehalten habe, macht das… das macht… ja, wie viele macht das?) die größte Videowand der Welt ist aufgebaut, eine Riesen-Cocktailolive und eine 30 Meter hohe Zitrone erwarten das Publikum, erwarten den Abend mit seinem Multimediaspektakel, weitgereiste Ausrüstung, denn U2 sind ja schon durch Amerika getourt, bevor die Show der Superlative via Rotterdam nach Europa geschwappt ist, alles steht bereit, und Zehntausende sind unterwegs.

Ich auch.

Im Zug schon, der normalerweise fast leeren Spätnachmittagsverbindung zwischen Wien und Graz, eine freudig aufgeregte Menge, sehr gemischt übrigens, von ganz jungen Teenagern bis hin zu 60jährigen ist alles dabei. Vor Wiener Neustadt sieht man die Bühne aus dem Fenster, ein endlos scheinender Strom von Menschen bewegt sich darauf zu. In Wiener Neustadt selbst, von erstaunlich freundlichen ÖBB-Bediensteten in ein Zubringershuttle dirigiert („U2-Shuttle“ steht in riesigen Lettern auf improvisierten Wegweisern), trennen sich die normalen Reisenden von den Konzertbesuchern, und die Erwartung rund um mich steigt spürbar. Vom Schleppbahnhof dann noch fünf Minuten Fußweg durch die flache Landschaft, eine angemessene Annäherung, die ein langsames gewöhnen an die ungewöhnlichen Ausmaße des Geländes erlaubt. Über uns, die wir uns langsam darauf zubewegen, kreist ein Hubschrauber, Flugzeuge starten und landen, wie mag das wohl sein, von da oben auf die aus mindestestens drei Richtungen auf das eine Ziel zusteuernde Masse zu schauen? Autos parken auf dem freien Feld, Zelte sind aufgebaut, ein paar Menschen sitzen unter dem Vordach eines Wohnmobils, trinken Bier, andere stehen auf den Hügeln rundherum, wohl in der Hoffnung, gratis etwas vom Ereignis des Jahres mitzukriegen. Sie werden nicht enttäuscht werden. Vom Festgelände hört man jetzt schon die Musik, noch aus der Konserve, angenehme, ins Ohr gehende Songs von wenig bekannten Bands, und schon ist die Einheit beinahe hergestellt, 70.000 – oder wie viele es zu diesem Zeitpunkt sein mögen – werden zu einer Gruppe, Jeder ein potentieller Verbündeter. Vor dem Einlaß steht einer und verteilt Infos, die auf raffinierte Weise U2 dazu benutzen, den Leser zu Jesus zu bekehren. Auch das ist nur ein Lächeln wert, weiter geht’s, und über zwei Sperren und drei Kontrollen (Tasche – Abtasten – Ticket) erreiche ich den inneren Kreis, das Ziel der Reise.

Angekommen

Erstmal umschauen.

Alles beherrschend vorne die Bühne, der riesige gelbe Bogen, mag er nun an McDonalds erinnern sollen oder nicht, der die Videowall zweimal unterteilt. Lautsprecher, Equipment. Weit weg, nur schwer auszunehmen. Wenn ich besser schätzen könnte! 50? 70? Meter dahinter der Mixer, in der Größe einer durchschnittlichen österreichischen Freiluftbühne. Noch ein Stück weiter mehrere unglaublich hohe Türme mit unglaublich starken Lautsprechern, dazwischen kleinere Pfahlbauten mit Beleuchtungskörpern, möglicherweise auch Kameras, man sieht nicht hinein.

Viel weiter hinten dann eine Reihe von Halbzelten mit blauen Dächern, wo Bier, Wein und andere Durstlöscher ausgeschenkt werden. Außerdem noch Merchandising Points, wo der wahre Fan sich eindecken kann mit CD’s, T-Shirts, Puzzles und jeder Menge anderen Kleinkrams. Entlang den Außenwänden – also noch viel weiter hinten – weitere Labestationen, von Pizza bis zu American Donuts ist alles zu bekommen, Erste-Hilfe-Stationen, dazwischen mobile Toiletten, jede Menge, trotzdem vor jeder eine kleine Schlange. Rechts vorne die VIP-Tribüne, spärlich besetzt. (Wo sich Leute wie Stefi Graff und Papermoon sich nicht nur an der Musik, sondern auch an Krabben und anderen Köstlichkeiten laben dürfen, aber das hab ich erst viel später gelesen, in einem Konzertbericht, der mindestens so überflüssig war wie dieser hier.)

Dazwischen – hab ich das schon erwähnt? Zehntausende Leute. Darüber – schon vergessen? – Musik, aus der Konserve noch immer, trotzdem wie ein Dach über der Menge, wie eine verbindende Klammer über Leuten, die nur auf U2 warten, Leuten, die ihren Spaß haben wollen, Leuten, die jetzt schon zu besoffen sind, um noch irgendetwas mitzukriegen, Leuten, denen das alles relativ egal ist, Leuten, die hier arbeiten und vielleicht lieber woanders wären, Leuten, die hunderte von Kilometern angereist sind, Leuten aus der Nachbarschaft, Wienern, Grazern, Tirolern, Ungarn, Tschechen – und noch mehr Leuten.

Vielleicht einen Blick auf die Bühne werfen, solange es noch geht? 2 Stunden, bevor das Konzert wirklich losgeht, muß ich bereits am Mixer kapitulieren. Eine undurchdringliche Reihe von breiten Rücken hindert mich am weiteren Vordringen.

Dann halt ein Bier. Die tiefstehende Sonne und das blasse Herbstlicht (obwohl doch eigentlich noch Sommer sein sollte) geben der Szene eine Friedlichkeit, auf die ich nicht vertraue. So viele auf einem Fleck – und friedlich? Natürlich war da Woodstock, irgendwann – aber wir leben in den Neunzigern. Ich beobachte, warte ab. Mit meinem Bier in der Hand wandere ich über das Gelände, versuche, so viel wie möglich von der Atmosphäre mitzukriegen. Ein paar Typen, sichtlich nicht mehr ganz nüchtern, nackt, tanzen. Keinen scheint’s zu stören. Warum auch? Liebespaare. Gruppen von Jugendlichen, ausgelassen. Gruppen von Leuten in meinem Alter, abwartend. Keiner scheint alleine hier zu sein. Dann doch einer. Und noch eine. Ob ich auch so verloren aussehe? Schlangen vor den Toiletten, Schlangen vor der Bierausgabe. Friedliche Schlangen. Noch, denke ich. Und habe mich geirrt, aber das weiß ich auch erst heute, einen Tag später. Und bin sehr froh.

Ich beende meinen Rundgang und suche mir einen Platz, mittig zwischen Mixer (vor mir) und Bierzelten (hinter mir). Noch sitzen die Leute, ich setze mich auch. Noch scheint die Sonne. Rundherum die Musik, Einzelne, die zwischendurch aufstehen, um zu sehen, ob sich vorne schon was tut. Aus einem Flugzeug sind ein paar Fallschirmspringer abgesprungen. Sie drehen sich, machen Kunststücke. Die Leute schauen hinauf, und ich frage mich, wie wir von da oben wohl aussehen mögen. Ob sie von da oben die Musik hören können. Wir alle sind auf einem großen Fest. Lust, Lebenslust, Musik. Sommer.

Paradise Now!

Dann kommt Bewegung in die Menge. Warum, ist erst ein paar Sekunden später verständlich. Ein hörbar Ö3-geschulter Moderator bringt uns – mit wesentlich mehr Worten, als ich hier wiederzugeben bereit bin – die freudige Nachricht, daß wir einem Ereignis noch nie dagewesener Größenordnung beiwohnen dürfen, und dannn – seine Stimme überschlägt sich – kommt der Hammer: „U2 sind schon eingetroffen!“ – als wäre das die Sensation der Sensationen, denke ich, daß Künstler eineinhalb Stunden vor ihrem Auftritt „schon eingetroffen“ sind. But never mind. Bevor es aber soweit ist, und wir auch hören dürfen, was zu hören wir hergekommen sind, so klärt uns der gute Mann weiter auf, würden uns noch 2 andere Acts erfreuen: Die „heimische Top-Formation Paradise now!“ und ein „großartiger DJ“. Nun denn.

Paradise Now! sind musikalisch betrachtet nicht schlecht, eigentlich ziemlich gut. Genaugenommen vielleicht sogar wirklich gut, auch wenn ich bessere heimische Top-Acts kenne (und wann’s des lest’s, dann wißt’s eh wer g’mant is!) – aber ziemlich gut. Wenn sie nicht soviel Unsinn reden würden zwischen den Songs, wären sie noch wesentlich besser. Aber das ist eine andere Geschichte.

Langsam geht die Sonne unter hinter der gigantomanischen Riesenbühne, in rot, aber nicht zu kitschig, noch immer fliegen Flugzeuge, Hubschrauber über das Areal, von da oben ein Photo, denke ich, während Paradise Now! wahrscheinlich das Konzert ihres Lebens spielen, vor 73.000 Menschen, eine Zahl, die sie selbst als Mega-Top-Pop-Stars (um in der Diktion des Moderators zu bleiben) kaum jemals mehr zusammenbringen werden. Auf der Videowand leuchten einzelne bunte Lichter auf. Einmal auch wird sie kurz bis zur Hälfte erleuchtet, von links nach rechts. Aufseufzen in der Menge. Leute um mich beginnen zu tanzen, mit Tausenden (Zigtausenden) Watt verstärkte Gitarren jaulen, Schlagzeug trommelt, Sänger singt. Ganz auf Zehenspitzen stehend kann ich tatsächlich sehen, daß da vorne jemand auf der Bühne ist, sich bewegt, winzige Gestalten, Sie machen ihren Job gut, bringen die Menge in Stimmung, in welche Stimmung, frage ich mich, meine angeborene Angst vor Massen schlägt durch. Als mir mein angeheiterter Platznachbar bei seinem begeisterten Kriegstanz zum zweiten Mal mit voller Wucht auf den Zeh springt, ist’s mir zu bunt, gute Musik hin oder her. Ich geh weiter nach hinten, vielleicht auch noch ein Bier, denk ich, vielleicht läßt dann die Angst nach, die alles kaputtmachen könnte.

Howie B

Über dem Bierzelt steht der fast volle Mond, noch blaß, auf einem noch halbhellen Himmel, und das genügt mir schon. Vorsichtshalber einmal aufs Häusl, jetzt kann es nicht mehr lange dauern.

Doch weit gefehlt.

Während ich in der Schlange stehe, vor dem Häusl, beenden Paradise Now! ihr Konzert, und der DJ nimmt seinen Platz ein. Auch gut. Nicht geschult genug, um die Richtung zu erkennen, empfinde ich das, was aus den Lautsprechern hämmert, doch passend und sogar angenehm. Auch wenn – ich merke es auf meinem Weg zurück ins Geschehen – die Stimmung jetzt deutlich umschlägt. In die Erwartung, die über der Masse liegt, mischt sich so was wie Aggression. Nicht unbedingt böse. Auf der Kippe. Ich hol mir doch noch ein Bier und warte ab. Die Videowand zeigt – ohne zu leuchten – den Schriftzug „PopMart“.

Als der DJ Mofo anspielt, wächst die Erwartung. Vielleicht übernehmen SIE direkt, meint eine Tussi neben mir. Was richtigerweise zu bezweifeln war. Die Riesen-Freiluft-Disco geht weiter. Der DJ ist gut, zu gut vielleicht. Um mich wächst die Energie, die knapp daran ist, ins Negative umzukippen. Weil die ´Menge keinen Platz hat, um abzutanzen? Weil sie nicht mehr warten wollen? Ich stehe festgewachsen. Jemand schüttet mir sein Bier über die Jeans. Alles fängt sich in dem Moment, als von vorne plötzlich „Silvia’s Mother“ tönt, der halbe Song, ohne Techno-Beats, die Menge (ich mit) gefangen in einer Augenblickswelt zwischen Amüsement und Rührung, viele singen sogar mit.

Doctor Hook aber wird bald abgewürgt, weiter dröhnen die Beats, nicht unangenehm, aber scheinbar endlos und somit zu lange, viel zu lang.

Es ist soweit

Längst ist es ganz dunkel geworden, längst habe ich angefangen, mich zu fragen, was ich hier eigentlich tue. Ob ich nicht zu alt bin für Events wie diesen. Ob ich nicht einfach abhauen soll, in die nächste Schnellbahn steigen, ab nach Hause, vors Radio, vor den Fernseher, das alles war ein Irrtum, ich habe hier nichts zu suchen. Der ewige Massenkomplex ist mir unter die Haut gekrochen, dieses Gefühl, nichts tun zu können, ohne daß mich zig Leute dabei sehen. Vorne, hinten, links, rechts stürmen pausenlos Leute an mir vorbei, in der Hoffnung, vielleicht doch noch eine bessere Sicht zu ergattern, auf dem Weg zum nächsten Bier, auf dem Weg zum Häusl, was weiß ich. Gerempel, Getanze. Gleichzeitig tiefste Einsamkeit. Als wäre ich allein auf der Welt. Gleich ist es soweit, gleich hau ich ab. Nur das Bier noch austrinken. Dann.

Fast ohne Pause ist es soweit. Der Sound ändert sich. Die Masse horcht auf. Licht, Bewegung kommt auf die Videowand. Plötzlich, ohne daß ich den Übergang bemerkt habe, ist die Stimmung völig verändert. Eine Art lässiger Verzückung breitet sich aus, Unglauben fast: Sie sind da! Wirklich da!

„Pop, Pop, Popmuzik“

Sie sind da. Und es hat angefangen. Und die Stimmung ist gut. Zärtlich, fast. Plötzlich ist es leicht – und ungefährlich – mit dem Strom nach vorne zu schwimmen, weiter als ich es vor Stunden gewagt habe, plötzlich stehe ich weit genug vorne um zu sehn, daß die da vorne wirklich spielen, daß das, was die Kameras verfremdet auf die Videowall projizieren, in diesem Augenblick Realität ist.

Nach der Einstimmungsphase, nachdem alle ziemlich hypnotisiert sind, vom Sound, vom Licht, von ihrer eigenen Erwartung, der Abstecher in die ferne Vergangenheit, und das mit meinem Song, tatsächlich: Meinem magischen Song, magisch geworden in einer Augustnacht des Jahres 1987, vor 10 Jahren also: „New years eve“ – und die Textzeile “I will be with you again“ reißt mir endgültig den Boden unter den Füßen weg, nichts bleibt mir über als mich Hineinfallen zu lassen in die Magie des Abends, nichts bleibt von meinem Beobachterstatus, wie alle anderen um mich herum lasse ich mich davontragen von der Musik, von den Bildern auf der Videowall, von den ab und zu ergatterten kurzen Blick auf die Gestalten auf der Bühne. Oben, unten, vorne, hinten, Zeit, Reihenfolge wird bedeutungslos. Alles stimmt. Alles ist wirklich. Alles ist jetzt. Alle Lust, aller Schmerz, alles Leid, alle Freude. Dieser Welt. Ist jetzt. Und das ist die Wahrheit. Und das ist gelogen. Gleichzeitig. Ohne dabei je den Blick für die maßlos übersteigerte Ironie zu verlieren, die dem ganzen innewohnt. Ein Widerspruch im Widerspruch. Ein endloser Spiegel im Spiegel im Spiegel im Spiegel. Doch der Spalt zwischen den Welten schließt sich. Für einen Moment.

Ob sie nun Neues bringen oder altes. Pride (in the name of love). Natürlich. Eine absolut endgültige Version von Miami (mein heimlicher Favourite, übrigens). Back to „Where the Streets have no name“. Und wieder in die Gegenwart. Irgendwann, die Dekoration wird dunkel, „Staring at the sun“. Akustisch. Als wäre das mutig. Als würde es einen Unterschied machen (und das tut es. Und das tut es nicht.) Tausende Feuerzeuge, die gerne gebrannt hätten – nur der Wind war zu stark. Aber das macht nichts. Nichts macht mehr etwas, zu diesem Zeitpunkt. Nicht einmal das unerwartete und schmerzhaft peinliche Anspielen eines Ambros-Hits nach der zuerst Ungläubigkeit hervorrufenden Frage „Where are we?“ -(und alle brüllen: Wien! oder Austria! oder Vienna!, wird ein einziger großer wortloser Schrei.) Und – auch das noch! – Eine Verbeugung vor Elvis, an seinem 20. Todestag, mehr als die angekündigte und wohlwollend aufgenommene Karaoke-Version von „Suspicious minds“; nicht genug damit: „Can’t help falling in love“ – und sie lassen das Publikum die Nummer davontragen, Augenblicke lang…

Und natürlich könnte da jetzt alles passieren, alles könnten sie bringen. Ein kurzer Schauder. Sehr kurz nur. Über die Mächtigkeit von solchen Massenereignissen. Über die Möglichkeit, eine Masse zu steuern. Sobald man sie hat. Ganz kurz nur. Dann wieder untertauchen im Strom des Geschehens, das viel mehr ist als nur gute Musik. Viel mehr als eine gute Show. Viel mehr als Pop. Aber was?

Irgendwie, igendwann, lasse ich mich hinausschwemmen aus dem homogenen Meer der Menschen um mich, erreiche das dünner besiedelte Ufer, sehe von dort noch die Zugaben, die nicht lange auf sich warten lassen, geliebt, gefeiert, haben es U2 nicht nötig, sich lange bitten zu lassen, „Discotheque“, und, aus dem angekündigten Riesen-Diskothekenball steigend, für manche vielleicht jetzt zum ersten Mal sichtbar die im Gegensatz zu den Aufbauten rundum unglaublich kleinen, unglaublich verletzlich wirkenden Menschen, die dort weit vorne auf der Bühne ihre Instrumente spielen, immer noch, nicht etwa von einem Raumschiff aus –

Noch geht es weiter, das auf dem Album als Selbstmörder-Ballade erscheinende „Velvet Dress“ kommt in neuem Gewand an, als potentieller Hit verkleidet, trotzdem schön! Und immer noch ist nicht genug, immer noch geht es weiter, immer noch schenkt man uns den lebenslangen, sekundenbruchteilkurzen Augenblick, der nach der lächerlich unbedeutend scheinenden irdischen Uhr ziemlich genau 2 Stunden gedauert hat.

Abspann

Die Menge kommt in Bewegung, beginnt zu strömen, gibt mir alptraumhafte Augenblicke lang ein Gefühl dafür, was die Zahl 70.000 bedeutet. Ich bleibe stehen, bis der Strom um mich versiegt, nur noch einzelne Grüppchen herumstehen, die auf jemanden warten, vielleicht, vielleicht auch – wie ich – auf mehr Platz für den Heimweg. Noch einmal ganz nach vorne schlendern, bis zur Absperrung, die immer noch unwahrscheinlich weit weg ist von der eigentlichen Bühne. Aber auch schon weggescheucht von den Ordnern, die wohl schon ans Abbauen denken. Schließlich muß die Show wieder „auf die Straße“, schließlich gibt es noch mehr Konzerte zu spielen, für die Roadies wie für die Band ist dieser Abend nur einer von vielen.

Und langsam setzt das denken wieder ein, kann man wieder darüber nachdenken, wie lächerlich bombastisch dieser ganze Megahype wirken sollte auf aufgeklärte bewußt lebende Menschen. Und doch tut er es nicht, obwohl er es irgendwie natürlich doch tut. Warum tut er es nicht?

Nachwort

Auf der irdischen Uhr ist es fast halb eins geworden, 5 Stunden habe ich auf dem Gelände verbracht. In allen nur denkbaren psychischen und Geisteszuständen. Zu müde, um noch ernsthaft über etwas nachzudenken. Mit anderen Nachzüglern lasse ich mich treiben, quer über die Felder und schließlich eine Straße entlang, zur Schnellbahn. Hinein in den Wagen, in dem andere Konzertbesucher schon auf dem Boden sitzen, lehnen, liegen. In müde gewordener Begeisterung. Ich setz mich auch. Ein Junge lehnt sich im Halbschlaf an meine Beine. Schreckt hoch, hat wohl geglaubt, es wäre jemand anderer hinter ihm. „Jaja, ich hab dich auch lieb“ sage ich, weil’s paßt und irgendwie auch stimmt. Er lehnt sich wieder an. Irgendwo hinter, neben mir eine ganz junge Mädchenstimme, im Tonfall halb von tiefem Ernst, halb von selbstgemachter Ironie getragen: “Wir haben uns doch alle lieb, oder nicht?“

U2, wenn es das ist, was übrigbleibt von einem Konzert von Euch – wie immer kommerzialisiert, gehyped, verplastikt – kommt bitte öfter. Wir können’s brauchen.

1 Comment

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Previous Story

You don’t bring me flowers

Next Story

Erholung tut not