10. Mai 2002

That was then & now is now

Direkt neben dem Schillerhof [war Link zu blog.vollmondlicht.com, nicht mehr online. Anm.2024] habe ich nur einmal Eis gegessen, das war damals an einem sonnigen Frühlingstag irgendwann zwischen schriftlicher und mündlicher Matura. Mit meiner Grossmutter saß ich da und mit der freundlichsten Erzieherin aus dem Internat, ist ja nicht weit weg gewesen.

Wie das Eis geschmeckt hat, das weiß ich gar nicht mehr, ich weiß nur, dass ich es kaum erwarten konnte, von dort wieder wegzukommen, um meinen damaligen und allerersten Freund zu treffen. Was dann auch ein veritables Fest war. Soviel Reife an einem Tag. Wahnsinn.

War übrigens ein Mittwoch. Mittwoch, der zwölfte Juni 1985. Um meinem Screen-Name wieder mal die Ehre zu erweisen. Scheiße, bin ich alt.


Und es ist nicht gut…

…nein, gar nicht gut, wenn man über solche Dinge nachdenkt. Noch weniger gut ist es, wenn man einen Eintrag wie den obigen noch einmal durchliest und beschließt, das Datum im alten Kalender nachzuprüfen (Screenname. Ehre. Und so.). Also her mit dem alten Kalender, dem winzigen (A7?) von der Steiermärkischen Sparkasse, außen bemalt und/oder beklebt mit Fotobruchstücken des Jahres davor, künstlerisch verziert mit Alufolie und glitzerndem Nagellack, das war so Brauch bei uns damals, das haben alle in der Klasse gehabt, jedenfalls alle, an die ich mich erinnern kann. Heute hätten alle die, die damals so einen Kalender hatten, ein Weblog, mehr oder weniger ästhetisch (aber jedenfalls sehr persönlich) designt, und es spricht nicht für meine oben erwähnte Reife, dass ich (meines Wissens nach) die einzige bin, die ihrem Leben immer noch täglich Ausdruck zu verleihen versucht, als hätte ich nicht schmerzhaft und nachhaltig gelernt, dass ich für die Welt um nichts wichtiger bin als irgendjemand anderer da draußen.

Aber weiter in die Nostalgie: Innerhalb dieses “künstlerischen” Umschlags folgte dann eine konstruktionstechnisch kunstvolle Vorrichtung aus geflochtenem Tixo, die es ermöglicht, kleine Zettelchen aufzubewahren, etwa die, die man in den langweiligen Schulstunden von Pult zu Pult gegeben hat, in denen so wahnsinnig intelligente Dinge stehen wie zB

[kindliche Handschrift #1] Glaubst du an die Liebe? Ich weiß nicht so recht. Spass ja, oder sowas wie Pleasure – damals ein Synonym für Sexualität – , oder ein bisschen Trost vielleicht. Aber Liebe?

[kindliche Handschrift #2] Natürlich glaube ich an die Liebe. Sei nicht so pessimistisch. Man muss nur warten können. Ausserdem kenne ich lebende Beispiele dafür!!! (Der letzte Satz auch noch 3x unterstrichen, zum damaligen Zeitpunkt etwas wie ein “Emoticon” für Du weißt schon, wen ich meine.)

Außerdem fanden dort noch weitere Fotoausschnitte Platz, die auf den Umschlag nicht mehr draufgepasst hatten oder “zu geheim” waren, um sie gleich außen drauf zu tun. Dann noch mehr Zettel, mit Zitaten aus Musik oder Film oder Literatur. (“Sie sind so jung” – “Das gibt sich mit der Zeit!”, weiß der Himmel woher das stammt, aber irgendwo weit hinten in meinem Kopf höre ich die Stimme von Romy Schneider. Oder: “Ich habe heute auf der Piazza Espagna zum ersten Mal eine Lerche singen gehört.” – “In Sizilien singen sie schon seit Wochen” Warum um alles in der Welt habe ich das bloß aufgeschrieben? Klingt irgendwie nach dem Arzt da, auf der Insel, wie hieß er noch gleich? Ältere Semester werden sicher wissen wer gemeint ist – OW Fischer hat ihn gespielt.)

Dazu zerwuzelte Eintrittskarten (zB No. 124184 aus dem Joanneum). Auf dem Innenumschlag des Kalenders eine Europalandkarte, in der getane Reisewege mit schwarzem, erwünschte mit rotem Filzstift angestrichen waren. Mit viel Tixo über die damals uninteressante Tschechoslowakei geklebt der abgekürzelte Stundenplan. Danach eine Leerseite, vollgekritzelt mit Zitaten (Lebe Schnell und Stirb!Doppelt lebt, wer auch Vergangenes genießtIt’s all Heading for a dead stop.Das Leben ist eine Rutschbahn!“Je ne perds jamais. Jamais vraiment.”)

Danach eine Reihe von Seiten mit gedruckten Maßeinheiten, die uninteressanten überklebt mit Gedichten, weiteren Fotoschnipseln und Filmstandbildern aus Zeitungen. Dann endlich der Kalender. Auf der ersten Seite (der, auf der die letzten Tage des Vorjahres stehen) ein Jahresmotto: The only people for me are the mad ones [] Jack Kerouac

Dann 7 Tage pro Doppelseite: eine winzige Spalte pro Tag, voller kryptischer Andeutungen von denen ich die meisten leider noch durchaus verstehe. Oft, immer dann, wenn so eine winzigkleine Spalte nicht ausreicht, steht da: sTB, das heißt dann: siehe Tagebuch (aber soviel Selbsterhaltungstrieb habe ich gerade noch, dass ich dieses Tagebuch nicht auch noch aus seiner Kiste hole). Das meistverwendetste Wort des Jahres 1985 ist zweifellos öd, häufig verstärkt: so öd!, total öd!, ur-öd!, voll öd!

Um die Einträge zu lesen, muss man oft an den Rand geklebte Bilder oder Zeitungsausschnitte anheben, Rezensionen von Theaterstücken oder Konzerten, Liedtexte, Bilder von damals verehrten Personen oder Persönlichkeiten, vereinzelt auch getrocknete Rosenblätter (duften nicht einmal mehr) mit sachte daraufgeschriebenen Gedichtzeilen. All das wäre heutzutage natürlich ein simpler Link.

Der 12. Juni 1985 also. Ein Tag, an dem anderswo weit wichtigere Dinge passierten. [auch hier fehlen ein paar Links, die weder mit der Waybackmachine noch mit großem Google-Fu nachvollziehbar sind, Anm 2024]

Ziemlich dick rot eingeringelt (und ich weiss noch, wie ich beim Rotmalen des Datums dachte: Wozu eigentlich, das vergisst du ohnehin nicht!). Da steht in winzigkleiner Handschrift:

Früh auf. Voll öd. DAG öd, aber kicher mit C. NM Kaffee mit S. OmaTel öd. Musik statt lern. sG. Gegen Abend TH, spät kommt T., zu ihm. V: Götter müssen verr sein, dann sTB

qed. Die Datumszuordnung funktioniert ja noch.

Der Kalender hat übrigens hinten noch eine Abteilung “Notizen”, zum Freundschaftsalbum umfunktioniert, und einige aus der Klasse konnten richtig gut zeichnen. Und dahinter kam eine Art Haushaltsbuch, mit Spalten für Ausgänge und Einnahmen und Gründe, von mir wirtschaftlich Desinteressierter als Sammelsurium aufhebenswerter Lehrersprüche genutzt (über die ich teilweise auch heute noch blöde kichern kann), alle präzise mit Urheber und Datum versehen:

In Äthiopen ist es so, dass oft ganze Landstriche wandern.

Sie mordeten und raubschatzten…

Analytische Sätze sind solche, wo eh logisch sind.

– Die Mathematiklehrerin über eine quadratisches Funktion: Das ist kein Rechteck, das ist kein Dreieck, das ist einfach so ein komisches Trumm”

Und mit diesem letzten Grinsen ersteht die Mathematikprofessorin vor meinem geistigen Auge, wie immer in einem beigen Faltenrock (je später am Tag, desto kreideverschmierter) und knöchelhohen Wanderschuhen, dazu eine ebenfalls beige Bluse (je später am Tag, desto verworrener der Kragen), und sie stellt sich vor die Klasse, nachdem eine besonders intelligente Schülerin die Sonne wieder einmal als Planet bezeichnet hat, sie hat die Hände in den Hüften und brüllt (und dabei hat sie fast nie gebrüllt):

Und wenn ihr euch aus Physik nur eines merkt, dann sollte es das sein: Die Sonne ist kein Fixstern!

Danach einige Sekunden verblüffter Stille, dann 25-stimmiges Hohngelächter. Sie steht da, kann ihren Wortstolperer selbst nicht fassen, stampft einmal kräftig mit dem Fuss auf und verläßt dann im Laufschritt die Klasse.

Genug. Zuviel. 17 Jahre. Siebzehn Jahre. Und warum das alles? Nur wegen einer Portion Maronieis. [Das war ein Link zum Blog bluepixel, das es leider auch nicht mehr gibt, Anm. 2024]

Und als ich den Kalender wieder in seine dunkle Kiste stecke, fliegt noch ein winziger Zettel heraus, und darauf steht:

Niemals verkehrt’ ich mit Salamandern

und über ihr Treiben erfuhr ich von anderen

Waldgeistern nur wenig…

…und wo das her ist, weiß ich nicht mehr, wohl aber weiß ich, und das sofort, noch ehe meine Augen am Ende des Zitats angelangt sind, die Stimme dessen, der es gesprochen hat. Und was diese Stimme in meinen, unseren Augen alles in sich trug: Das Leben. Die Liebe. Das Universum. Und den ganzen Rest.

Und jetzt schaue ich auf das damalige Leben wie auf eine ferne Cousine, ein bisschen beschämt und ein bisschen gerührt, und frage mich worauf ich da heute wieder mal meine Zeit verschwendet habe. Hm.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Previous Story

#159

Next Story

Fieberträume