22. Juni 2002

Taxi Driver

Nein nein, ich kann mich nicht beschweren, der Tag war in Ordnung. Eigentlich sogar ganz gut. Der Ausgang der morgendlichen Fussballspiele hat mich nicht in tiefste Verzweiflung gestürzt. Die Temperatur in meiner Wohnung ist um ca. 5° (auf 32°) gefallen, ein Vorgang, den ich nur ungern als Abkühlung bezeichnen möchte, der den Schlaf jedoch zumindest möglich erscheinen läßt.

Außerdem waren die Proben heute erfolgreich und vielversprechend, und auch im Zug sind mir keine besonders anstrengenden Mitmenschen begegnet, weder besoffene Prolos, denen ich hätte widersprechen müssen, noch hilflose nicht-deutschsprachige Mütter mit Kindern, die man aus Freundlichkeit doch bis zur richtigen Straßenbahn begleitet. Der etwa 70-jährige Opa, der sein leises Singen mit rhythmischem Klatschen begleitete, den ganzen Weg von Rekawinkel bis nach Wien West,  war gegenüber früheren Erlebnissen in der Bahn geradezu herzerfrischend.

Der Taxifahrer schliesslich, den ich – vorsichtig, wie man in dieser Stadt wird – bereits vor dem Einsteigen gefragt hatte, ob er einen Hunderter wechseln könnte – er konnte nicht – war ein Wiener Original, wie man sie außerhalb des Kaisermühlen-Blues kaum mehr zu Gesicht bekommt. Ich solle zum Dragan gehen mit meinem Hunderter, sagte er, der Zeitungsverkäufer, der könne immer wechseln. Meinen wohl ungläubigen Gesichtsausdruck beantwortete er mit einem freundlichen “Jo, gengan’s nur, gengan’s.”

Ich ging, und während ich ging, fand zwischen dem Taxifahrer und Dragan eine heftig zwinkernde Kommunikation statt, die mich, wären im Umkreis nicht mindestens 20 Leute gewesen, ziemlich misstrauisch gemacht hätte. Der Taxifahrer erklärte mir später ohne weitere Nachfrage meinerseits, er hätte dem Dragan erst sagen müssen, dass das in Ordnung gehe mit meinem Hunderter, der Dragan würde nämlich nicht jedem, der da so vorbeikommt, ganz einfach einen Hunderter wechseln.

Dragan wiederum nahm meinen Hunderter huldvoll entgegen, hielt ihn gegen das Licht, betastete den Streifen und beleuchtete den Schein schliesslich mit einer blauen Lampe, allerdings keiner ultravioletten, sondern einer simplen blauen LED-Lampe, wie ich sie auch an meinem Schlüsselbund habe. Er betrachtete während der letzten Phase auch nicht den Schein, sondern mich, es handelte sich also um eine psychologische Prüfung: Wäre der Schein falsch gewesen, hätte ich angesichts der blauen Lampe wohl höchst nervös werden müssen.

Er war aber nicht falsch, und so erbarmte sich Dragan und gab mir 10 Zehner, damit ich ins Taxi steigen und am Ziel den Taxifahrer bezahlen konnte.

Währenddessen fragte ich mich, ob Dragan wirklich Dragan heißt, oder ob für jemand wie den Taxifahrer, der den Dialekt der untersten Wiener Schublade spricht, jeder schmächtige dunkelhaarige Typ mit Schnauzbart Dragan heißt. Aber ein solcher Gedanke ist ganz bestimmt nur ein Klischee.

Ich stieg ein, und der Taxifahrer begann sofort zu reden und hörte erst wieder auf, als wir vor meinem Haus standen. Eigentlich ein geringer Preis dafür, dass er ganz ohne Richtungsangaben meinerseits zielstrebig und auf kürzestem Weg die genannte Adresse ansteuerte. An der ersten roten Ampel gerieten wir in einen Filmdreh – hätte man meinen können. Es war aber nur ganz und gar Wien.

Ein vom Alkohol offensichtlich ziemlich beeinträchtigter Mitbürger torkelte über den Zebrastreifen, ließ sich in dessen Mitte auf die Knie nieder und begann, ein Heurigenlied zu singen. Möglicherweise (die hoch erhobenen, gebetsartig verschränkten Hände ließen darauf schließen) war es auch ein Kirchenlied, das durch den dichten Alkoholnebel wie ein Heurigenlied klang.

Jäh unterbrochen wurde die Darbietung durch – meinen Taxifahrer, der seinen Vortrag über Dragan unterbrach (Dragan würde ihm jeden Tag 6 oder 7 Mal Geld wechslen, man könne also davon ausgehen, dass diese Zeitungsverkäufer unverschämt reich seien), schnaufend das Fenster hinunterkurbelte und brüllte: “Hoit die Goschn du Trottl”. Der Betrunkene sang ungerührt. Der Taxifahrer brüllte weiter “Heast, schleich di!”, und der Sänger schlich, vermutlich mehr wegen der umschaltenden Ampel als wegen der Beschimpfungen.

Einer von den Bettlern sei das, die regelmäßig am Bahnhof stünden, erklärte mir der Taxifahrer, und dann, eher philosophisch-sinnend als politisch-verurteilend, dass all diese Sandler auf ihre eigene Weise eigentlich glücklich seien, den ganzen Tag unterwegs, mittags kommt der Caritas-Bus mit Gratissuppe, und für einen Doppler Wein reiche die Schnorrerei immer.

Glück sei eben ein dehnbarer Begriff, führte er weiter aus, ihm solle nur niemandem erzählen, er sei Alkoholiker geworden wegen der Weiber, er selbst sei auch seit 15 Jahren geschieden und habe keineswegs zu saufen angefangen. Meine Zweifel an dieser Aussage, geschürt durch die deutlichen roten Äderchen auf Nase und Wangen, behielt ich für mich. Ich wäre auch gar nicht zu Wort gekommen.

Geschieden, als die jüngste seiner drei Töchter die Matura gemacht hat, sagte er, aber er habe sich nicht unterkriegen lassen sondern stattdessen eine Klassenkollegin eben jener jüngsten Tochter geheiratet, mit der habe er jetzt eine 12-jährige Tochter, die Frau sei eigentlich auch zum Vergessen, aber was soll man machen, er würde durchhalten, wenn man Kinder in die Welt setzt, müsse man sie eben auch großziehen.

Wegen der schon selten gewordenen Ortskenntnisse kriegte er trotz dieser unsäglichen Geschichte ein ordentliches Trinkgeld von mir, was ihn dazu animierte, sich mit einem galanten “Küss die Hand, gnä Frau” von mir zu verabschieden. Ich flüchtete sehr erleichtert in meinen digitalen Elfenbeinturm.

Bei wieviel Grad schmilzt eigentlich Elfenbein?

[Alte Kommentare]

Elfenbein

Elfenbein zählt zu jenen Substanzen, denen der erlösende Übergang in den flüssigen Zustand verwehrt bleibt: Ehe seine Moleküle rasch genug schwingen können, um den flüssigen Aggregatzustand zu erreichen, brechen sie auseinander und bilden diverse Abbauprodukte, die je nach Temperatur und Sauerstoffzufuhr bis hinab zu Kohlendioxid reichen. So wird sich denn der chronistische Elfenbeinturm demnächst in Rauch und Asche verwandeln, um als letzte Manifestation einfach nur zum Treibhauseffekt beizutragen…

Trurl, 23.06 20:07

Wie schade!

Ich hätte auf eine malerisch langsam herrunterrinnende Substanz gehofft, ungefähr sowas wie Kerzenwachs…

Chronistin, 24.06. 12:04

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