Sonntagskind

12. August 2003

Ich laufe zu der Stelle, an der die große rote Maschine notgelandet ist, um die Überlebenden freudig zu begrüßen. Es haben alle überlebt, der Pilot hat das sauber hingekriegt. Ich war auch in der Maschine, obwohl ich es gleichzeitig vom Boden aus gesehen habe. Aber ich begegne mir nicht.

Wieder und wieder schauen wir uns das Video an, auf dem die Notlandung aufgezeichnet ist. Wieso hat er denn das Fahrwerk nicht ausgefahren?

Timeshift: In der Maschine ist es ganz still, bis auf ein ungleichmäßiges Motorengeräusch. Wir sind im Endanflug, für die Notlandung, aber ganz ruhig. Keiner zweifelt daran, dass das problemlos ablaufen wird. Der Pilot fährt das Fahrwerk nicht aus, weil es im Sand versinken und die Maschine dann auf die Nase fallen würde, während der breite Bauch auf dem Sand gemütlich dahinrutschen kann.

Das tut er dann auch, und wir alle mitsamt den Piloten werfen uns aus der Seitentür, während die Maschine noch rutscht. Sie rutscht sehr weit und zerschellt vorne an den Felsen, während wir uns den Sand aus den Kleidern schütteln.

Am nächsten Tag gehe ich wieder zu der Stelle, ich brauche unbedingt ein kleines rotes Metallstück von den Trümmern, denn damit ist endgültig bewiesen, dass ich ein Sonntagskind bin. “Sie haben schon alles weggeräumt”, sagt S. Es muss doch irgendwo noch etwas herumliegen, denke ich. Wo die Maschine aufgesetzt hat, steht jetzt ein Bahnhof mit Restaurant. Vor der Felsmauer, an der sie zerschellt ist, ist eine Bühne für ein Rockkonzert aufgebaut. M verkauft Tickets für das Konzert, erklärt mir aber, dass man für den Bühnenbereich Spezialtickets braucht, von denen er keine mehr hat. Ich versuche, sehr verzweifelt zu schauen, und er wechselt ein paar Worte mit einem Typen, der danebensteht, und reicht mir dann ein zerknittertes staubiges Spezialticket, das ich mir an mein zerknittertes und staubiges T-Shirt hefte.

Ich stelle mich auf eine Sanddüne, um besser sehen zu können, wo vielleicht noch etwas rotmetallisch glänzt. S steht neben mir und erklärt mir, sie haben das alles akribisch gesäubert, damit die Konzertbesucher nicht in ihrer guten Laune gestört werden. Ich gehe zurück zum Bahnhofsrestaurant, ein dunkles, verwinkeltes Modulbau-Labyrinth, und versuche vor einem Spiegel, mir einen Pickel auf der Stirn auszudrücken.

Ich klappe den Spiegel auf, um einen besseren Sichtwinkel zu kriegen, und finde dahinter Ein Arrangement aus Spruchkarten und getrockneten Duftkräutern. Auf der einen Spruchkarte ein kitschiger Vierzeiler in altmodischen Worten, der mir einreden will, das wahre Glück läge in einem selbst, egal wie es rundherum ausschaut. “Das sollten sie Mal den Soldaten aus dem letzten Krieg erzählen”, sage ich zu niemand im besonderen, und weiter hinten kichern zwei Mädels. Ich überlege, ob ich statt des Bruchstücks die Karte mitnehmen soll, aber das wäre irgendwie nicht richtig.

Ich komme irgendwie nicht an den Pickel heran, daher nehme ich mein Gesicht ab, schraube hinten zwei Schrauben auf und drücke den Pickel von innen aus. Da steckt eine Metallfeder drin, deshalb ist es auch von außen nicht gegangen. Dann setze ich mein Gesicht wieder auf, rücke es gerade und gehe hinaus.

An einem Tisch sitzt der Dunkle und winkt mich zu sich. Was ich denn suche, fragt er mich. Ich erzähle ihm, dass ich unbedingt ein Stückchen Metall von der Maschine brauche, um damit zu beweisen, dass ich eigentlich ein Sonntagskind bin. Und es muss vom roten Teil der Maschine sein, ein weißes wäre zu beliebig. Er lacht mich aus und spottet über meinen Aberglauben.

Dann löffelt er seine Suppe, und ich, sehr zornig, will schon gehen, als er mich leicht in die Seite boxt und mir unter dem Tisch etwas rüberreicht. Es ist ein münzengroßes Metallstück, angeknittert, von dem rote Farbe abblättert. “Nimm die Hälfte von meinem!” sagt er und lacht. Ich möchte ihm ausgelassen dankbar um den Hals fallen, aber ich lasse es und frage auch sehr spöttisch “Du auch?”. Er zwinkert mir zu und legt den Finger an die Lippen.

Ich gehe hinaus und lege M das Spezialticket wieder hin. Wir schauen uns nochmals das Video von der Notlandung an. Es ist jetzt mit Musik unterlegt, und jemand hat anstatt unserer Gesichter die Gesichter von Fernsehstars hinenretouchiert. M findet das frech, und ich erkläre ihm, dass Medien eben so funktionieren. Dann gehe ich, durch den feinen weißen Sand, während hinter mir das Konzert anfängt.

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