[Lest es als Podcast. Es sollte einer werden, aber abgesehen von meinen grundsätzlichen Bedenken – die ich vielleicht irgendwann näher ausführn werde – bin ich jetzt einfach zu müde, um das Ding auch noch einzuspielen.]
Ich bin ja immer noch sehr damit beschäftigt, meine neuen Linsen zu genießen. Klingt schon komisch, ist aber ganz normal. Ich trage meine Linsen anstatt der angegebenen 12 Monate meist um die 2 Jahre. Wie bei anderen Dingen vertraue ich auch dabei meinem Körper, in dem Fall genauer gesagt den Augen, die mir ihren Wunsch nach neuen Linsen mitteilen, indem sie vor der Schlafenszeit trocken werden. “Dailies” (die meine Fehlsichtigkeit nicht perfekt korrigieren, bei Verlust oder Beschädigung einer Langzeitlinse aber immer noch besser sind als Brillen) kann man auf diese Weise übrigens 7-10 Tage tragen. Nicht durchgehend natürlich, und nur, wenn man sie abends desinfiziert. Aber Linsen, die abends nicht desinfiziert werden, sind mir ohnehin suspekt.
Jedenfalls sind neue Linsen etwas ganz anderes als bis zur Trockenheitsgrenze getragene Linsen. Das ist ein bisschen schwer zu erklären, es ist nicht so, dass die alten irgendeinen merkbaren Qualitätsverlust zeigen (wie Trübheit oder Kratzer), sondern eher so, dass die neuen einfach merkbar neu sind. Dieses merkbar neue Sehgefühl erlaubt mir, auch die Welt irgendwie neu wahrzunehmen, die sich natürlich nicht verändert, wie sich auch mein Sehen nicht eigentlich verändert; trotzdem ist das Bild der Welt irgendwie… anders. So, dass ich gerne hinschaue, so, dass ich auch im Zug immer wieder aus meinem Buch hochschaue, um das große Weite draußen zu bewundern, aus keinem anderen Grund als dem: Dass es da ist.
Das Buch hat natürlich mein Aufmerksamkeitsdefizit nicht verdient, das Buch ist ganz wunderbar (Danke, Melody!). Da stehen so wundervolle Dinge drin wie:
[Anm: Wir befinden uns auf einer Taufe in einer orthodoxen Kathedrale]
Am eindrucksvollsten war jener Augenblick, als unter Anführung des Psalmenlesers die Paten mit den weißen Knüppeln der geschmückten Kerzen und die Patinnen mit den Kindern auf dem Arm eine Reihe bildeten, das Gesicht der weitgeöffneten Kirchentür zugewandt, hinter der man die glühend heiße Hafenstadt ahnte, mit ihren Museen, Minaretten, dem genuesischen Leuchtturm, dem Denkmal des großen römischen Dichters und Verbannten Publius Ovidius Naso, den archäologischen Grabungen an der Stelle, wo sich im Altertum die freie Stadt Tomi befand, die einst von milesischen Auwanderern gegründet wurde, mit dem Handelszentrum aus der Zeit der Konstantine, einem Platz, einem Markt und einem langgestreckten Kai dahinter, der den Namen des Ovid trägt und wo erst vor kurzem das Fragment eines gut erhaltenen Mosaiks gefunden wurde, ein Teil von einem Hermeskopf – das alles um einen riesigen Hafen, hinter dem das schwarze Meer – Pontus Euxinus – sich prächtig dehnte, dem der kleine rechteckige Hafen für kleinere Schiffe sich anschmiegte, vor dessen Einfahrt die schmuzigen Wellen drängten und auf der Stelle traten wie eine Herde Schafe vor dem engen Tor zum Pferch, als wollten sie die alarmierenden, schlecht formulierten Worte Ossips bestätigen, dass “die Prosa asymmetrisch ist, ihre Bewegungen – die Bewegungen der Wortmasse – Bewegungen einer Herde sind, kompliziert und rhythmisch in ihrerUnregelmäßigkeit; echte Prosa ist Zerstückelung, Dissonanz, Vielstimmigkeit, Kontrapunkt…” [Valentin Katajew: Kubik]
…und das trifft sich gut, an dieser Stelle muss man nämlich hochschauen und den Satz genießen, ihn quasi in der Landschaft zergehen lassen, ihn dann noch einmal lesen, diesen Satz (ja: es ist nur einer!), dann noch einmal, und die Leichtigkeit bewundern, mit der er (der Satz) sich aus dieser weihrauchdurchzogenen Kathedrale mogelt, in die “glühend heiße” Stadt hinein, wie er dort ein, zwei, drei Pirouetten dreht im Strudel der Zeiten, bis er zum Hafen kommt, tief die Salzluft einatmet, und mit einer letzten zarten Drehung die Kurve zur lyrischen Literaturwissenschaft nimmt. Das ist ganz einfach wunderbar; und dabei ist das noch nicht einmal die beste Stelle des Buches, es ist nur die, die mich (bis jetzt) am meisten berührt hat, weil im Moment des Lesens die Stadt ganz da war, die Sonne, das Licht und der Geruch des Salzwassers. Ja.
Früher einmal konnte ich in jedem Buch verschwinden, egal wie gut oder wie schlecht es war; konnte mir jeden fremden Blick zu eigen machen und in jedes noch so seltsame Leben schlüpfen. Vielleicht, weil ich es einfach viel notwendiger hatte, damals; heute bin ich eigentlich ganz zufrieden (und das ist nicht wirklich gut für mich): Ich greife nicht mehr nach jedem Strohhalm einer anderen Existenz; nur mehr nach den Besonderen. Natürlich ist das ein Fortschritt, objektiv betrachtet, nur subjektiv geht es mir besser, wenn mich etwas quält.
Nein, das muss ich jetzt nicht auflösen. Wie in der Überschrift schon angekündigt, schwafle ich ein bisschen. Mir ist danach.
Ein seltsames Bild (Bild!) heute, an der Straßenbahnhaltestelle, einer steigt aus, normal-jugendliche Großstadtkleidung, unter dem Arm einen Klapphocker und ein dickes Buch, in der Hand einen 6-Pack Bier. Assoziation dazu sofort Harry Rowohlt, der ja einmal gesagt haben soll: “Das Publikum hat ein Anrecht darauf mitzuerleben, wie der Referent sich zugrunde richtet.”. Also unwillkürlich den jungen Mann imaginiert, wie er seinen Klapphocker mit der blaugestreiften Sitzfläche aufklappt, sich darauf niederläßt, das erste Bier öffnet, einen langen Schluck nimmt, sein Buch aufschlägt und dem Publikum, nicht mehr als 10 oder 15 Leuten, vorzulesen beginnt, und wie er die Lesung erst enden lässt, wenn der 6-Pack leer ist. Sofort bei dieser Lesung dabei sein wollen.
Ein Buch, ja. Ein Buch mache ich auch gerade; davon wird hier vermutlich noch mehr die Rede sein, als euch lieb ist. Dabei auch immer im Hinterkopf, worauf das Publikum ein Anrecht hat, was man dem Publikum zumuten kann. Diese Gedanken natürlich im Widerstreit mit der Idee der “hehren Kunst”.
Oh, Entschuldigung. Jetzt war ich angenehmst abgelenkt von der Sendung ohne Namen und habe völlig den Faden verloren. Macht aber nichts; man kann es nach schrecklichen 10 Monaten ruhig wieder einmal sagen: Das Ding ist das feinste Fernsehformat seit langem, wie da Bilder, Gedanken und Sounds durcheinandergewürfelt werden: Phantastisch! Für sowas zahlt man gerne Fernsehgebühr. Sage ich. Romantisch.
Jedenfalls, die Sache mit dem Buch – meinem Buch! – hat mich gelehrt, dass bei jedem Projekt, das man ausbrütet, zumindest zwei Personen angehört werden sollen: Der kritische Geist, der alle Entscheidungen anzweifelt, und der Luftgeist, der alle Ideen unhinterfragt auf die Spitze treibt. Zwei solche Menschen in meiner geistigen Nähe zu haben, die sich gerne mit meinen Hirngespinsten beschäftigen, ist ein großes Glück. Mein großes Glück!
Schon wieder abgelenkt, übrigens. Die Cannes-Rolle. Ich meine, wenn man hier dauerhaft mitliest, könnte ja der Eindruck entstehen, ich würde Werbung hassen. Das ist natürlich vollkommen falsch. Ich hasse schlechte Werbung. Ich hasse Werbung, die täglich gehirnwäschemäßig wiederholt wird. Und ich hasse Werbung, die gute Musik mit den falschen Bildern zugrunde richtet. Aber Werbung kann auch eine Kunstform sein, vor allem (oder vielleicht sogar: ausschließlich) dann, wenn man sie nicht jeden Tag sehen muss. Es gibt witzig-witzige Werbung (hier fehlt der deutschen Sprache ein Wort wie “hilarious”), es gibt absurd-surreale Werbung, es gibt, so paradox das auch klingen mag, sozial wertvolle Werbung. Nur leider verdammt wenig davon. (Aber die wenigen sieht man dann eben in der Cannes-Rolle.)
Wie?
Na gut, dann hör ich jetzt auf zu schwafeln. Einfallen würd’ mir ja noch einiges, aber es ist schon null Uhr vierzehn – und morgen erwartet mich mein Steuerberater. Was mich übrigens daran erinnert, … ach nein, genug jetzt.