Schritte und Kunst

25. Dezember 2021

Das letzte, was ich täglich vor dem Schlafengehen mache, ist ausführliches Lüften. Aus unerfindlichen Gründen ist es gestern, also heute, schon 3:35, als ich die Fenster öffne. Regen fällt, und im großen Innenhof ist in vier Fenstern noch Licht, meines eingerechnet. Nachtschwärmerhaus.

So ist es dann auch schon Mittag, als ich mich dem Lachs mit der Gabel nähere. Kümmere mich dann weiter um die Wohnung, eingeräumt ist das Zeugs weitgehend, ein paar langwierige Dinge gilt es noch zu sortieren (verstrickte Halsketten, verirrte Zettel, Kleinkram für Badezimmer- und Küchenladen). Eh viel entsorgt beim Siedeln, aber trotzdem noch zu viel behalten, habe ich das Gefühl.

Danach überlegt, ob ich tatsächlich Schritte machen soll oder doch gleich putzen, aus den Kisten ist doch auch so manches Staubflockerl gekrochen. Dann festgestellt, dass das Zigarettenpapier aus ist, ein Ausflug ist also unvermeidlich.

Es nieselt gräulich, mein Blick hat keine Lust auf Fotos, der Körper protestiert da und dort gegen zu viel Kistenschubsen in den letzten Tagen. Ich grummle in mich hinein und finde dann doch einen Anblick. Ist das Kunst oder kann das weg?

(Irgendwie schon Kunst, finde ich. Wenn auch paradoxe.)

Aus einem Hauseingang kommt ein älterer Herr mit Dackel, er hat eine blinkende Weihnachtsmannmütze auf, der Dackel ein blinkendes Halsband um. Der zutiefst grantige Gesichtsausdruck des Herrls will so gar nicht zu den feierlichen Accessoires passen. Ich stelle mir vor, wie er nach dem Christtagsmittagessen bei „Stein Schere Papier“ den kürzeren gezogen hat und nun mit dem Hund spazieren muss, obwohl er lieber auf der Couch geblieben wäre.

Die Leuchtreklamen in der Fußgängerzone erhellen die Lage auch nur ansatzweise. Viel Blaulicht unterwegs, Polizei, Rettung, einmal drei Feuerwehren hintereinander, da brennt wohl irgendwo ein Weihnachtsbaum.

Am Bahnhof ist wenig los, es scheint nur zu verreisen, wer unbedingt muss. Sogar die üblicherweise an Feiertagen endlose Schlange vor der Trafik entfällt. Wenn ich schon da bin, mache ich gleich eine Runde durch mein Lieblingsspazierquartier vom letzten Jahr, denke ich. Aber auch die Hochglanzbauten geben bei diesem Jammerwetter keine guten Fotomotive ab, nur einmal zücke ich das Fon, als auf dem glatten Beton zwischen den Hochhäusern die Stadt in die Tiefe weiterzugehen scheint.

Die Gebäude im Sonnwendviertel wirken alle eher leer, kaum Lichter an. Alle weihnachtsverreist oder leerstehende Wohnungen? Obwohl es eigentlich nicht so kalt ist (4 Grad) bläst der Wind eisig. Dann steh ich vor dem Belvedere 21, das auch sehr leer wirkt, und lasse mich von einer plötzlichen Kunstlust hineinziehen.

Man gibt „Avantgarde und Gegenwart„, und am Ende beeindruckt mich die Zusammenstellung besonders. Ich habe tatsächlich noch nie über die Arbeit des Kuratierens nachgedacht, OK, man hängt da was auf, dann dort, stellt ein paar Skulpturen dazwischen und für die Videokünstler da und dort einen Fernseher auf. Aber dass daraus eine Gesamtheit wird, aus der nicht nur ein Überblick über eine bestimmte Kunstszene, sondern auch über deren Vernetztheit erwächst, da braucht es immens umfangreiches Hintergrundwissen. Für die Rezipientin, also mich, sind auch alle Kunststufen abgedeckt, vom „Naja“ übers „Häh!?“ bis hin zum „Wow!“. (Schade, dass ich meine Favoriten nicht zeigen kann, aber Copyright…)

Bei manchem denke ich mir, dass etwas Interaktivität den Kunstgenuss intensivieren könnte. So würde es einem Marmorblock wohl kaum schaden, wenn man die Hand drauf legen könnte, aber das Erlebnis würde dadurch… wirklicher? Das trifft auch auf die Ausstellung im Erdgeschoss zu. Dort lungern Bronzeskulpturen wie absichtslos herum, „Akt in der Landschaft“ von Ugo Rondinone. Gerne hätte ich mich dazugesetzt und mit dem Arm um die bronzenen Gesell*innen den einen oder anderen Selfie gemacht, vielleicht sogar ein Glas Wein mit ihnen getrunken. Aber das hätte den gestrengen Wärter*innen sicher nicht gefallen.

Kurz überlege ich nachher, einen Kaffee im Musemscafé zu trinken, aber die Gesellschaft am einzig belegten Tisch ist mir ein Haucherl zu feuchtfröhlich für den Tag. Also wieder hinaus, wo es zwar auch feucht, aber deutlich weniger fröhlich ist. Es g’hört wieder viel mehr Kunst, denke ich, nicht zum ersten und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal, als ich durch die weitgehend verlassenen Straßen und Gassen nach Hause strebe.

In Höhe Keplerplatz gesellt sich zu Feuchtigkeit und Kälte ein widerwärtiges Eisgrieseln, die Kristalle brennen ungut auf der Gesichtsaut. Ich denke sogar daran, die Straßenbahn zu nehmen, kann mich aber gerade noch davon abhalten. Jetzt ist es aber auch nicht mehr weit, trotz eines kleinen Umwegs zur Tankstelle für ein frisches Semmerl. Irgendwie immer noch so beeindruckt von der Ausstellung, dass ich ein verwitterndes Kindergartenplakat einen Moment lang für gelungene Kunst halte.

12.600 Schritte.

Das Bier des Tages

Citra Incognito von Tiny Rebel freut in der Nase mit kräftig zitrusfruchtigem Duft, der Citra scheint da wenig inkognito. Dahinter noch mehr Frucht, Ananas? Mango? Banane?

Im Antrunk ebenfalls dominant zitrusfrischer Hopfen, bevor sich im ganzen Mund ein schönes, rundes IPA-Aroma mit begleitend sämigen Hefenoten verbreitet. Erstaunlich bei dieser Hopfen-Dominanz ist, dass der Abgang eher ins Malzige driftet, mit nur sanftbitterer Begleitung. Aber die ganze üppige Aromenfülle ist anhaltend, kleine Schlucke machen lange glücklich. Zum 5. Stern fehlt diesem Bier nur etwas kräftigere Kohlensäure, die grade bei der Citra-Dominanz viel passender wäre als das sanfte Geperle.

Zu trinken am ersten Urlaubsabend, wenn die Sonne grad ans Untergehen denkt, vor einem Mobilheim mit Blick auf den leicht kräuselnden See.

Bier-Übersicht

Derweil ich verkoste, köchelt die Suppe schon auf dem Herd, was gut ist, weil: Hunger. Danach werfe ich einen Blick auf meine „Zwischendenjahren“-Todolist, beschließe aber, sie vorerst zu ignorieren.

Zum Strickabend werfe ich einen zweiten Blick auf „The Man in the High Castle„, das ich seit Jahren empfohlen bekomme, beim ersten Versuch aber schon nach Folge 2 aufgegeben habe. Verstehe gar nicht warum, diesmal zieht mich die Story sofort in den Bann. Bingewatching ist angesagt, mit Strickzeug natürlich.

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