Rimini revisited und eine kaputte Hose

21. Januar 2023

Normalerweise optimiere ich meine Reisen ja gnadenlos selbst, aber als der übliche Sigep-Zug von Wien nach Bologna schon ausgebucht war und die Alternativen knapper wurden, während ich aus völlig anderen Gründen im Dezember-Endstress war, beschloss ich, mein Schicksal in Scottys Hände zu legen und die vorgeschlagene Verbindung ungschauter zu akzeptieren.

Die Abfahrt um halb zehn war gefühlt seltsam, um diese Zeit kommt man normalerweise doch eher an. Ein freundlicher Chefredakteur chauffierte mich zum Bahnhof, weil er eh gerade in der Gegend war, und ich hatte ein Zeitpolster zur Proviantbeschaffung einkalkuliert. Draußen wirbelten Schneeflocken vor den Lampen, und ich war froh, mein warmes Nightjet-Abteil beziehen zu können.

Während der Nightjet durch die beschneite Landschaft rollte, aß ich mein vorher besorgtes Mozzarellasandwich, trank dann ein ebenfalls vorher besorgtes IPA, und erfuhr erst danach, dass unser Waggon kein Wasser hatte. Da das Klo im Nebenwaggon verstopft war, bedeutete das einen ziemlichen Pieselweitwanderweg, aber irgendwas ist ja immer. Dafür war es aber angenehm ruhig, weder feiernde Reisegruppen noch aufgeregte Kinder störten den Schlafwagenschlaf, nur die viel zu heiß eingestellte Heizung trübte den Schlummer, bis ich den richtigen Schalter fand. Warum das Schlafen im Zug so angenehm heimelig und grundvertraut ist, kann ich selbst nur vage erahnen. Ich erwachte drei Mal kurz (immer, wenn der Zug stehenbleibt) und freute mich aufs Wiedereinschlafen in der Bewegung. Dann kam schon das Frühstück, wie versprochen, eine Stunde vor Ankunft in Venedig. Bei allem Verständnis für die Schienenlogistik erschließt sich mir nicht, warum der Kaffee so ein Abwaschwasser ist, andere Eisenbahngesellschaften schaffen doch auch einen besseren.

Aber egal, da ist ja schon Venedig.

Der Cappuccino am Bahnhof versöhnte mich mit dem Morgen, die Cappuccinozubereiterin noch mehr, weil sie konsequent italienisch mit mir sprach. Ein Viertelstündchen vor dem Bahnhof sitzen im normalen venezischen Alltagsleben, wo die Pendler*innen vom Zug zum Vaporetto laufen, die Möwen Tauben spielen und die Boote Wellen an den Kai schwappen lassen.

Der Anschlusszug kam pünktlich und war recht leer. Im Grunde sehr angenehm, nicht um 6 Uhr früh umsteigen zu müssen, aber andererseits ist die Sigep erfahrungsgemäß eine 2 1/2-Tage-Messe, und der fahrend verschwendete Vormittag kostet mich daher den Strandspaziergangs-Montagnachmittag. Der Wetterbericht sagt aber eh Dauerregen voraus.

In Bologna nochmals umsteigen, ich lernte aus Unaufmerksamkeit die Rückseite des Bahnhofs kennen, fand aber rechtzeitig zurück zum Haupteingang. Erst nach dem Entern des Regionalzugs merkte ich, dass der auch direkt bei der Messe stehen bleibt. Die umständlich imaginierte Gepäckaufbewahrung konnte entfallen. Ich verbrachte die letzte Dreiviertel-Zug-Stunde bei einem zweiten vormittäglichen Cappuccino im Speisewagen, weil ich keine Lust hatte, durch 5 Waggons zu meinem reservierten Sitzplatz zu latschen.

Eben noch aus dem Zugfenster literarisch vor mich hingeträumt (John Irving, dessen „Last Chairlift“ ich vor dem Einschlafen fertiggehört hatte, wirkte nach), schaltete ich quasi unbewusst und ohne Schwierigkeiten auf Messemodus um. Inzwischen ist auch die Sigep kein Fremdland mehr, ich bin nicht sicher, ob ich es mehr mag, wenn ich mir komplettes Neuland erarbeiten muss, oder wenn sich zunehmend „Nice to see you again“-Herzlichkeiten ergeben. Die Anblicke sind jedenfalls appetitanregend.

Um nicht in den Messeschluss-Rush zu kommen, weder an der Garderobe noch im Bus, beende ich den Messetag um 17:45 statt um 18 Uhr. Leider hatten viele andere die gleiche Idee. Ich nehme Stau und Gedränge deutlich leichter, als mir das zu Hause fiele. Das Hotel ist bald erreicht, es ist OK. Eine einzige Steckdose am Zimmer, an der noch dazu der Fernseher hängt, ist vielleicht ein bisschen mager, aber ich werde einfach aufs Fernsehen verzichten und meine Arbeitsgeräte laden.

Zuerst quält mich ohnehin ein Hüngerchen. Ich latsche durch den Schneeregen und falle in die alten Muster von ganz jemand anderem: Ich kann mich nicht entscheiden. Das runde Lokal aus dem Vorjahr hat schon wieder den Namen gewechselt, ist zudem auf Google Maps als Bar eingetragen, und der Umweg, um zu schauen, ob es auch Futter gibt, ist mir zu mühsam. Das irische Lokal, das ich mir schon beim ersten Mal anschauen wollte, ist zu voll. Ein paar andere haben verlockende Speisekarten, aber abschreckende Musik. Ich entscheide mich für eine Pizzeria ums Eck vorm Hotel.

Beim Hinsetzen macht es am Hinterteil „ratsch“, ein Riss in der Jean. An meinem Umfang kann es nicht liegen, diese Hose habe ich schon in deutlich breiteren Zeiten getragen. Und natürlich, denke ich, reisst das Ding dann, wenn ich einen hüftlangen Pullover an habe, obwohl ich 90 Prozent meiner Zeit lange Blusen trage. Ich denke nach, wann ich die Jean gekauft habe, und komme auf 2009. Diese Hosen halten auch nix mehr aus!

Ich beschließe, erst einmal sitzen zu bleiben und für etwaig notwendige Bewegungen in die Jacke zu schlüpfen. Die Lachsravioli in Krabbensauce machen mich zwar nicht glücklich, aber satt.

Dem Pizzabäcker mit der langen Schaufel hätte ich den ganzen Tag lang zuschauen mögen, aber es war ein Schnellrein-Schnellraus-Lokal. Als ich wieder raus war, lockte quer über die Straße Livemusik. Ich horchte hin und hörte ein Shocking Blue Cover.

Wie viele Jahrzehnte lang habe ich den Song nicht gehört? Bittschön, der Sound mittelmäßig, die Band so lala, aber es ist erst acht Uhr vorbei und ich beschließe, ein Livemusikbier zu trinken. Das Lokal scheint ein hiesiger Künstler-Treff zu sein, alle kennen alle (außer mir), und nach jedem zweiten Song wechseln ein paar Musiker. Eine Art Open Stage offenbar, auch der seltsam gekleidete Hofnarr, der allen die Basseiten zu verstimmen versucht, wird gutmütig geduldet und abgelenkt.

Als nun auch noch der Gitarrero wechselt und die Solos eigener werden, hätte man in diesem Setting gut alt werden können, aber die Kellnerin hat mein bestelltes Bier 2x, mein Wechselgeld einmal vergessen, und ich will mein Glück nicht herausfordern. Stattdessen gehe ich ins Hotel zurück und sortiere den Tag. Beim Gute-Nacht-Zigarettchen am Balkon höre ich, dass die Session zum Blues gewechselt hat, und wäre morgen kein Messetag, wäre ich glatt nochmals ins Gwand gefallen. Aber. Ach.

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