14. September 2003

Reiß mich zusammen…

…möchte ich manchmal sagen, zur Welt: Aber das tut sie natürlich nicht. Das müsste ich schon selber machen. Abgesehen davon ist sie aber ganz OK, diese Welt. Manchmal.

Zum Beispiel “wächst sie zusammen”. So hat das der Sufi genannt, als ich ihm gezeigt habe, dass man die Nachrichtensendungen des schwedischen Fernsehens 5 bis 10 Minuten nach der Ausstrahlung online abrufbar sind, in einer Streaming-Qualität, die eine Full-Screen-Betrachtung augenschmerzfrei ermöglicht.

Die Auszählung der EMU (Euro)-Abstimmung gibt es sogar live, und so sehe ich, während ich dies schreibe, ziemlich verblüfft, dass immer noch alles auf ein “Nein” hindeutet. Hm.

Angenommen hätte ich eher einen ähnlichen Vorgang wie bei der österreichischen EU-Abstimmung. Da waren ja auch alle Zeichen auf “Danke, nein” – und doch ist es ein Ja geworden, zum Schluss.

Zugeschrieben hat man das bei uns damals der Kronen Zeitung, die ja (aus angeblich zwielichtigen Gründen) im letzten Moment auf den Ja-Zug aufgesprungen ist. Selber vermute ich mittlerweile, dass es vielleicht noch andere wie mich gegeben hat.

Intellektuell höchst überzeugt von den “Nein”-Argumenten, stand ich damals in der Wahlkabine, den Stift in der Hand, und zögerte. Denn obwohl aus meiner logischen Sicht ziemlich viel gegen dieses vereinte Europa sprach, schien es meinem Bauch einfach nicht richtig, nein zu sagen. Und so habe ich kurz durchgeatmet & dann aus dem Bauch heraus das “Ja” gewählt, der Kopf musste hintanstehen.

Dieses Kreuzchen im – aus damaliger Sicht – falschen Kreis habe ich im übrigen jahrelang für mich behalten & erst vor ein paar Wochen zum ersten Mal zugegeben; im engsten Freundeskreis. Überraschend für mich: die allgemeine Zustimmung von ehemals beinah radikalen EU-Gegenern. Die Zeit verändert die Sicht auf vieles.

Aber zurück nach Schweden. Die Wahlsendung ist aus technischer Sicht hochinteressant. Es gibt ein Studio, in dem eine Moderatorin primär damit beschäftigt ist, zwischen verschiedenen Außenstellen hin- und herzuschalten, während unten, im Eck, permanent eine Graphik eingeblendet ist, die in Quasi-Echtzeit drei Werte anzeigt: Die Ja-Stimmen, die Nein-Stimmen, und die Anzahl der bereits ausgezählten Wahlkreise.

Die langatmigen Analysen, die man aus dem heimischen TV aus ähnlichen Wahlen gewöhnt ist, erspart sich SVT größtenteils; zwar gibt es einen hochseriös wirkenden Analysten, der ab und zu einen Satz dazu sagen darf, ob und warum die bisherigen Ergebnisse hochrechnungsfähig sind oder nicht; aber die langatmigen Erklärungen eines jeden Prozentpunkts, die das Anschauen eines auch noch so spannenden Wahlabends bei uns nahezu unmöglich machen, bleiben dem schwedischen Publikum erspart.

Fragt die Moderatorin zB, ob die bisherigen Ergebnisse repräsentativ sein könnten, antwortet der mit “Nein, die kommen nämlich fast ausschließlich von norrländischen Gemeinden.” Cut, und ein vorbereiteter Film zeigt, dass und warum Norrländer ungewöhnlich heftig der Nein-Seite zuneigen.

Medientechnisch könnte man sich davon durchaus etwas abschneiden. Die Entscheidung dagegen (die nun doch recht endgültig scheint; 39% Ja gegen 58% nein bei 3600 von 5976 Wahlkreisen) ist ein Jammer.

[Nachtrag] Das bei weitem Erfrischendste an diesem “Fern“sehergebnis war ein Experte, der, befragt nach den Ursachen eines besonders extremen Ergebnisses in einem Bezirk, bekümmert den Kopf schüttelte, dann kerzengerade in die Kamera schaute und antwortete: “Det vet jag inte.” (“Das weiß ich nicht.”)

[Nachtrag zwei] Auch recht erfrischend die Tante aus der Straßenbefragung, die meinte, es sei ihr zwar etwas peinlich, das vor der Kamera zuzugeben, aber ihre Entscheidung für das “Nein” käme vorwiegend daher, dass sie einfach nicht ertragen könnte, derselben Meinung zu sein wie Göran Persson.

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