• Abend, schon wieder? – (1990/1991)

    Nervöse Finger streicheln Katze, während Auge, nimmermüde, im Alltagsblätterwald das Hirn gebildet zu erhalten sich bemüht.

    Am Bildschirm ein paar Meter weiter wird das alltägliche Kriegsmenü serviert. Ich schau nicht hin. Mit halbem Ohr nur horch ich, ob’s was Besondres gibt.

    Die Katze stört das nicht, sie schmeichelt. Solang sie was zum Fressen kriegt. Was immerhin Ehrlichkeit vermuten lässt.

    Irgendwo im tiefen Gruftgegedunkel der sogenannten Wohnung säuselt das Telefon. Weil läuten tut sowas ja heutzutag nicht mehr. Für einen Augenblick vergess ich, wie’s heut ist, und denke, ER könnte es sein. Dann bin ich dort und er ist’s nicht. Nicht einmal jemand and’rer. Nur der unsterbliche Herr “Tut-Tut-Tut”.

    Was soll’s. Ich geb die Maske der mündigen, weil gebildeten Staatsbürgerin auf und schaue in den Kühlschrank. Gottlob. Es gibt noch Bier.

    Mit einem solchen & ein bisschen Käse wieder ins Zimmer. Dort ist es warm. Noch ist es warm.

    Jetzt streicheln Finger nicht mehr Katze sondern fummeln nervös an der Gitarre rum. Der eig’ne Lärm vertreibt die eig’nen Geister.

    Die Katze frisst den Blumenstock. Na soll sie halt.Das Gemüse war mir immer schon suspekt. Gitarre verstummt, wandert zurück ins Eck. Auf dem Weg zum Klo treff ich das fremde Wesen Spiegel. Es grinst mir zu. Abscheulich. Bedrohlich geh ich näher ran.

    Um Zeit zu vertreiben, quetsch ich ein paar unschuldige Mitesser in dem seltsamen Gesicht aus, das mir da entgegenblickt. Die Grimasse, die ich ernte, scheint mir nicht Dank genug.

    Vielleicht sind da ein paar Kilo zuviel, aber what the hell, im Sommer geht das schon wieder weg, nicht wahr? Weil im Sommer, da liegt Verzweiflung nicht halbe Tage lang im Bett. Da fährt Verzweiflung in die Füße und per kinetischer Energie werden Fahrradkilometer draus. So war es bis jetzt immer.

    Warum Verzweiflung? Und warum nicht?

    Mein Sonnenschein. Meine Prinzessin. Das war ich mal. Das ist schon lange her. Da lag noch mütterliche Verzweiflung im Bett herum. Unverstanden von der Prinzessin. Vom Sonnenschein. Da hat meinseins gelbe Sonne und blaue Wolken an die Wand gekreidet. Ich dachte, dass das hilft. Heute verschenk ich Plastikinseln. Wo liegt der Unterschied?

    Jetzt fall’n mir Fotos ein. Ganz alte spuckt die Schachtel aus und dann ganz neue. Dazwischen klafft ein jahrelanges Fotoloch. Schlecht?

    Die neuen Fotos zeugen von unfassbarer Effizienz dessen, der da durchs Objektiv geschaut. Das könnte ich gewesen sein. Aber wo bin ich dann jetzt?

    Noch ein Bier und schuldbekrochen werd ich, weil so viele zu schreibende Briefe, so viele zu erledigende Dinge –

    Pfeif drauf. Und wie üblich beim zweiten Bier schleicht Sentimentalität aus dunkelster Ecke in mein schon beeinträchtigtes Gehirn. Da nehm ich wieder die Gitarre und singe unmöglich klebrige Worte zu musikalisch unhaltbaren Griffzusammenstelllungen. Vor mich hin.

    Nun säuselt wieder dieses weiße Ding. Das früher einmal schwarz zu sein pflegte. Die Zeiten ändern sich. Ich schleich mich hin, immer an der Wand lang, und reiß den Hörer schnell an mich. “Ich bin nicht da, Herr Tut-Tut-Tut!”

    “Haha”, lacht es in mein erschrecktes Ohr, “Du bist ja lustig drauf!” – Worauf du wetten kannst, mein Herr. Ich schweige, warte ab. Es ist noch nicht so spät, meint er. Dass es, unter Umständen, vielleicht? Eine gute Idee sein könnte?

    Also, konkret, wie es denn wär. Auf ein Bier. Gleich in der Nähe, irgendwo.

    Nein. Ich will nicht, will ganz und gar nicht. Kein verrauchtes Lokal mit massenweisen Arschlöchern, die lachen schreien besoffen und betroffen sind. Nein. Will. Ich nicht. Nein. Kann. Ich nicht.

    Stattdessen sag ich ja.

    “Ich zieh mir nur ganz schnell was an.” Und starr noch grübelnd auf den Hörer, als der schon lange schweigt. –

    Trotzig schmeiss ich mich in Klamotten, die erstbesten, wohlgemerkt, kein Kajalstift heute und keine Wimperntusche. Nicht für dich. Weil’s ohnehin und sowieso schon nichts mehr nützen würd.

    Dann das Lokal. Obwohl vorausgeahnt, nimmt quirlige Betriebsamkeit, in Rauch gehüllter Bierdunst, mir kurz den Atem, Orientierung auch. Doch da: Da winkt mir was. Und wie das Lamm zum Schlachter geh ich, mir einredend, der Unterschied wär gross. Weil ich ja weiss, was los ist. Weiss ich’s denn?

    Begrüßung. Küßchen. Harmlos, Kurz. Wie geht’s dir denn=? frag ich, was ist denn los? Und wieder rundet sich der Kreis. Ich hör mir an was jener da zu klagen hat. Nun denn. Briefkastentante ich spitzt aufmerksam die Ohren. Und schaut bekümmert, weil das hilft.

    Dann folgt die Frage, die gar keine ist. “Ich weiß nicht, was ich tuen soll”, sagt er.

    Ich schweig. Was kann ich denn noch sagen? Ich hab mich ganz und gar an diesen Menschen da verschenkt.Hab immer schon gewusst von seinen Sorgen. Seinen Ängsten. Lange bevor ich wusste, dass es ihn gibt. Ich habe nichts erhofft von meinem Wissen, nicht Antwort und schon gar nicht viel Gefühl. Nur dass man-n- das, was ich zu geben weiß, auch nimmt. Und hört und vielleicht aufnimmt, was ich zu sagen weiß. Ich schweig. Mann hat mich also doch enttäuscht. Nur anders als er dachte. So, dass mir nichts zu sagen bleibt. Ich schweig.

    Und so ergibt ein Bier das andre. Und aus Gewohnheit spiel ich noch einmal die Göttin. Stark und weich. Und weiß und rede und mach anschließend , so zum drüberstreun, ein allerletztes Mal noch (so sag ich mir) den Clown. Und bin, so wie ich’s immer war: Erhoben. Bin befreit, und fast schon: Glücklich – weil ich seh, er lacht.

    Mir wird ganz schwächlich, weil das alles geht.Weil ich noch immer sein kann – sein, nicht spielen – was ich immer wollt. Doch leider bin ich’s nur durch ihn.

    Ich spür mich fallen. Bin verloren. Ich spiel mich schnell, das fängt mich auf. Dann aber schnell, bevor’s zu spät ist: “Ich muss jetzt gehn!” – “Warum?” – Weil ich dich nicht mehr sehen kann. Weil das Gespür, jetzt nicht dich berühren zu dürfen, mich hilfloser macht, als dass ich mir zu sein erlaub.

    Das sag ich nicht. “Ich muss doch aufstehn”, sage ich. Und lächelnd auch noch. Wie es sich gehört.

    Ach was, ein Bier noch! – Also gut. Und dann die Frage, auch schon wohlbekannt (nach kurzer Selbstanklage): Warum ich denn das alles tu, was ich so tu. Warum ich denn so sein kann, wie ich bin. Trotz allem….?

    Ich schweig ihn an. Wie könnt ich denn nur anders sein zu dem, der da mir gegenüber sitzt? Warum?

    “Weil ich’s versprochen hab.” Bin schon bebiert genug, um das zu sagen. “Versprochen?”, fragt er, “ich weiß nichts davon.” – “Nicht dir, dem Mond.” Und mein Gesicht lächelt trotz Suff noch ausreichend Sphinx. Und ich beherrsch mich. Ich red nicht von jener Nacht. Von meinem Fürcht. Von meinem Trän.

    Na gut, dann gehn wir. Tief in meiner Jacke verkriech ich mein Gefühl, weil jetzt wär’s wieder mal soweit & ich würd zärteln wolln. Für ihn? Für mich? Was weiß denn ich? Ach was.

    Dann Tschüß. Und krall die Hand in meine Jackentasche, damit sie nur ja nicht selbstständig wird und sich verirrt an seine Wange. “Was schaust du so?” – “Nur so.” – “Mach’s gut & pass bloss auf auf dich.” und so. Und ebenfalls und hin und her.

    Dann geh ich schnell davon damit du bloss nicht weißt wie sehr ich stehn möchte & schauen. Und stell mir flüchtend vor wie gut das wär.

    Dann fang ich mich im Mond. Denn ich: Bin doch viel größer. Stärker. Und bin viel mehr wert.

    Das gröbstens seltsame Gefühl lass ich beiseite: Das seltsam händeringende Gefühl, ich wär das lieber nicht.

    Jetzt heim? Das geht nicht.Ich geh noch schnell wohin, woanders, und trink dort noch ein Bier. Und lache, scherze, und geh unter. Das ist zumindest, was ich gerne möcht.

    Doch schaff ich’s nicht. Die Tür vom Beisl stößt mich ab. Ich runde nur die Häuser, zwei- drei- viermal und je nachdem. Und werd vom Kaltluftblas ernüchtert. Und frag mich wieder, was das soll.

    Also doch heim. Die Katze maunzt. Ich auch. Und geh wie Häftling Zwölf durch’s Zimmer; Hände rückenverschränkt, wie man’s so kennt. Und dann bleibt nichts mehr übrig. Nichts mehr zu tun und nichts zu wollen und nichts zu trinken, also auf ins Bett. Und weil ich schlafen muss, bin ich mir gnädig & lass mich träumen. Und träumend wird es Morgen. Irgendwann.

    [Datum ungefähr]


  • Rumänien – 6 Monate danach

    Rumänien – 6 Monate danach

    [Ein Artikel für die längst verstorbene Basisinfo, wenn ich mich recht erinnere, möglicherweise aber auch für irgendeine Musikzeitschrift.]

    Was denkst du, wenn Du das Wort “Rumänien” hörst? Wahrscheinlich an die Bilder der Revolution im Dezember, an Kämpfe, Soldaten und an Menschen in Not. So jedenfalls ist es mir ergangen, als Freunde von mir, der aus der BRD stammende Rockmusiker Dorian und die Wiener Rockgruppe Freak Weber erzählten, sie hätten eine Einladung bekommen, an einem Benefizkonzert für die Opfer der Revolution in Temesvar mitzuwirken. Ob ich nicht mitkommen wolle, um zu fotografieren.

    Am 7. Juni fuhren wir los. Wir hatten unsere Vorstellungen, Gedanken von Zerstörung, von Menschen zwischen Trauer und Siegesfreude, von Städten, in denen man deutlich sehen und spüren kann, was geschehen ist. Es war alles ganz anders. Und doch genau so.

    Das erste, was uns nach der Grenzüberschreitung in Nagylak auffiel, war der im Vergleich zu Ungarn jämmerliche Straßenzustand. Gleich danach, im ersten Dorf an der Strecke, Verwunderung: “Das sieht ja aus wie bei uns im Burgenland!” – gut erhaltene Dörfer, Kühe, Schweine, Hühner und Schafe laufen auf der Straße herum. Wieder auf offenem Land fahre wir kilometerweit durch Felder, Getreide, Mais, Zwiebel. “Das war nicht immer so,” weiß Ulli, “Unter Ceaucescu war es den Bauern verboten, mehr als ein ganz bestimmtes Stück Land zu bestellen.” Später erfahren wir, daß es auch jetzt nicht im ganzen Land so hoffnungsvoll aussieht, der Nordosten des Rumäniens, Siebenbürgen mit seinem Völkergemisch aus nicht weniger als 13 verschiedenen Nationalitäten – darunter Deutsche, Ungarn, Slowenen, Zigeuner – hatte immer schon eine Sonderstellung und erholt sich jetzt auch rascher von den Druckmaßnahmen des totalitären Regimes.

    Nicht so positiv fällt uns Arad auf, die erste Stadt, die wir durchfahren. Hochhäuser aus Fertigbetonteilen, die aussehen, als würden sie beim ersten Windhauch – geschweige denn bei einem Erdbeben – zusammenkrachen, bestimmen das Stadtbild. Viele Menschen sind auf der Straße, schon um halb sieben Uhr morgens, warten auf die kaum funktionstüchtig aussehenden Busse und Straßenbahnen;  Menschenschlangen vor den Lebensmittelgeschäften zeigen, daß es mit der Versorgungslage noch immer nicht zum Besten steht, Autos sieht man wenige, und von den wenigen haben die meisten ausländische Kennzeichen.

    Noch einige Kilometer weiter, dann haben wir Temesvar erreicht. Der erste Weg: Zur Fernsehstation “Free TV Timisoara”, wo wir erst einmal zusammenzucken: Fünf Panzer stehen vor dem Gebäude, und so weit das Auge reicht, sieht es mehr Soldaten als Zivilpersonen. Ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, betreten wir ungehindert das Gebäude und werden nahezu sofort von Marchis Ionel, dem Organisator des Festivals, “empfangen”. Er erzählt ein wenig vom Konzert, 30 Gruppen werden innerhalb von drei Tagen auftreten, darunter Bands aus Ungarn, der UdSSR, Jugoslawien, Österreich (von wo außer Freak Weber noch die niederösterreichischen Hardrocker “Zodiac” teilnehmen), der BRD (Dorian) und natürlich aus Rumänien selbst (“Celalte Cuvinte”, deren Name “andere Worte” bedeutet, “Pro Musica” u.a.). Das Bühnenequipment kommt vom jugoslawischen Fernsehsender Novi Sad, der einen Großteil des Konzerts live übertragen wird, wie auch Free TV Timisuara selbst und das Bukarester Fernsehen. Der bundesdeutsche Südwestfunk wird einen Teil der Liveübertragungen übernehmen.

    Dann ruft er “a lady”, eine Dame, die uns zum Hotel begleiten wird, und wendet sich den nächsten Ankömmlingen zu. Den von den Panzern und der uns ungefragt zugeteilten Begleitperson geschürte Verdacht, daß es mit der Revolution nicht allzuweit her sein könnte, zerstreut Lili, die “Lady”, bald. Die Panzer, so erklärt sie, stehen nicht wegen des Fernsehsenders hier, sondern um den ungestörten Verlauf des Prozesses gegen den ehemaligen Bürgermeister und andere öheregestellte Beamte und die örtlichen “Securitate”-Mitglieder zu gewährleisten, der im selben Gebäude stattfindet. Die Frage, ob nicht einige von ihnen noch in Freiheit sind, beantwortet sie mit einem Schulterzucken. “In Temesvar hat es während der Revolution 2000 Tote gegeben”, berichtet sie, “aber es gibt nur 162 Leichen, entsprechend der offiziellen Zahl der Opfer. Wo die anderen sind, weiß niemand.” Am selben Nachmittag, auf dem Weg zu einem Restaurant, sehen wir eine Demonstration. Obwohl von Polizei oder Armee nichts zu sehen ist, werden wir unruhig. “Das könnt ihr filmen!” ruft Lili, drängt uns richtig dazu und übersetzt die Parolen, die die Menschen schreien:“Nieder mit dem Kommunismus”; “Libertate” verstehen auch wir. “Sie sind gegen Iliescu”, erklärt Lili noch, “So eine Demonstration gibt es hier jeden Tag.” Es sind etwa 250 Personen. Ob sie selbst auch gegen Iliescu ist? Keine Antwort. Persönliche Aussagen könnten hier gefährlich sein, auch heute noch.

    Im Restaurant treffen wir Ovidio, einen freien Journalisten, der ein Interview mit Freak Weber und Dorian machen will. Daraus wird ein Gespräch, in dem er ebensoviele Fragen zu beantworten hat wie die Musiker.  Wie auch Marchis und Lili antwortet er kaum auf Fragen nach “der Zeit vorher” und nach der Revolution selbst, spricht lieber davon, was es zu tun gibt und welche Schwierigkeiten die Menschen hier noch immer haben, wenn sie etwas aufbauen wollen, ein Geschäft oder eine Zeitung oder eben einen Fernsehsender.

    “Der Papierkrieg ist nicht weniger geworden”, sagt er, “Viele Menschen im Westen glauben, daß wir nicht arbeiten wollen, aber das stimmt nicht. Um etwas Neues zu machen, braucht man so viele Genehmigungen und Bestätigungen von offiziellen Stellen, das ist für die meisten Leute hier nicht durchschaubar. Und die Leute haben immer noch Angst.”

    Im Laufe des Gesprächs wächst der Respekt vor Menschen wie Ovidio, Lili und Marchis, die mit weniger als unzureichenden Mitteln versuchen, in diesem Land eine nichtstaatliche Informationsstruktur aufzubauen, die wahre Demokratie erst ermöglichen kann. Sie wollen nicht weg aus diesem Land, sie wollen hierbleiben und ihr Möglichstes tun, “damit man hier leben kann”. Daß der Kampf gegen die Diktatur noch nicht gewonnen ist, wissen sie alle.

    Am Abend fahren wir ins Stadion, wo der erste Abend des Konzerts schon begonnen hat. Etwa 3500 Zuschauer sind gekommen, die Stimmung ist gut.  Am zweiten Tag machen wir einen Spaziergang durch die Stadt, versuchen, die Atmosphäre hier einmal ohne Begleitung zu spüren, den Menschen einmal “allein” zu begegnen. Angst und Mißtrauen sind überall zu spüren. “Ihr müßt verstehen,” sagt Lili später, “bis vor kurzem waren bessere Kleider ein Zeichen dafür, daß man einen Securitate-Mann vor sich hatte, oder zumindest einen Spitzel.” Nur die Kinder sind mutiger: Sie kommen zu uns und wollen Essen, Schokolade und Zigaretten.

    Eine deutschsprachige Zeitung, die in der Hotelhalle liegt, bietet ein buntes Sammelsurium an Berichten über lokale Ereignisse, die Berichterstattung über das Ausland ist so gut wie nicht vorhanden. Über die mangelnde Organisation der Verteilung der Hilfslieferungen berichtet ein Artikel.  Dann geht es wieder ins Stadion. Wir erfahren, daß alle Mitarbeiter alles ohne Bezahlung tun: Die Musiker wie die Bühnenarbeiter. Alles ist improvisiert, was aber keineswegs bedeutet, daß es nicht funktioniert. Die Menschen hier können ihren Job, sie schaffen es, aus nichts etwas zu machen. Die Befürchtungen der Musiker, was die unzulängliche Technik anbetrifft, sind unbegründet – oder besser: Sind sehr wohl begründet, aber die Techniker wissen mit allen Problemen umzugehen.

    Backstage, unter den Musikern, überrascht den abgebrühten West-Festival-Kenner die Atmosphäre. Nicht Neid, Konkurrenzdenken und Mißtrauen bestimmen den Umgang der Musiker miteinander, sondern eine hierzulande unbekannte Solidarität. Kontakte werden geknüpft, Erfahrungen ausgetauscht. Paradiesische Zustände, obwohl es sich bei den rumänischen und russischen Gruppen, keineswegs um Amateure handelt, die meisten Gruppen wären, wie Freak Weber beinahe überrascht feststellt, durchaus auch im Westen konkurrenzfähig.

    Den Eröffnungsakt am zweiten Festivaltag macht Dorian mit einem aus Rock- und Folknummern zusammengestelltem Programm, das vom Publikum mindestens ebenso begeistert aufgenommen wird wie die Hardrockbands vom Vortag. Nachher, ganz wie bei uns, warten die Kids auf Autogramme. Wie fühlt man sich nach so einem Auftritt? Dorian:“Als wäre ich in Woodstock dabeigewesen.” Und es ist ja eigentlich eine Art Woodstock für Osteuropa.

    Freak Weber spielen etwas später an diesem Abend, beginnen ihren Auftritt mit dem “Wiegenlied”, dessen Text in rumänischer Übersetzung bei der TV-Liveübertragung eingeblendet wird. Darauf folgt ein Querschnitt durch die Musik des “letzten Freaks von Wien”. Nach dem Konzert: Begeisterung beim Publikum, frohe Erschöpfung bei den Musikern.

    Der Abend endet mit Kontaktgesprächen zwischen den Bands, eine Einladung von rumänischen Bands zu einem Festival in Österreich ist geplant.

    Am nächsten Tag, als wir abfahren, kommen noch einmal Marchis. und Lili ins Hotel. Das nächste Festival in Rumänien soll im September in Bukarest stattfinden, sagt Marchis, er würde sich freuen, wenn Freak Weber und Dorian wieder dabei sind. Wir freuen uns auch. Und versprechen, die Kontakte warm zu halten, zu schauen, was sich von Österreich aus für diese Menschen tun läßt.

    Rumänien, 6 Monate danach: Ein Land der Kontraste. Unsicherheit und Armut in der Bevölkerung, und doch so viele Menschen, die sich ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit bemühen, daß das, was im Dezember erreicht wurde, nicht in Vergessenheit gerät, sondern zu einer wirklichen Demokratie wachsen kann.


  • Winter

    Winter

    Mein Gott, wie ich den Winter hasse! Die Zeit, in der du, sobald du vor die Haustüre trittst, reflexartig den Kopf zwischen den Schultern wiederfindest, anstatt 20 Zentimeter darüber, wie es sich für einen freien und stolzen Menschen gehören würde. Die Zeit, in der du jeden Tag eine Massage brauchen könntest, weil du die Schultern bei den unaufschiebbaren Erledigungen so hoch gehoben hast, daß du vor lauter Krampf nicht mehr gerade gehen kannst. Die Zeit in der du nichts riechst, weil es zu kalt ist, nichts hörst, weil du den Schal bis über die Ohren gezogen hast, und nichts siehst, weil du in dem verzweifelten Bemühen, keine kalte Luft zwischen Jackenrand und Schalanfang eindringen zu lassen, das Kinn ständig an die Brust gepreßt hältst, die Zeit, in der du nichts etwas schmeckst, weil du permanent mit tropfenden Nase und rauhem Hals gesegnet bist. Eine gefühllose Zeit, denn die Kälte begnügt sich nicht damit, dich zu überfallen, wenn du aus dem Haus gehst, nein, sie belagert und umschleicht das Haus, und unweigerlich gelingt es ihr einzudringen, dazu braucht sie nicht einmal die in Wien ohnehin häufig sich anbietenden undichten Fenster und Türen, durch die der Wind mit einem Geräusch pfeift, das dem Heulen eines rettungslos heiseren Schloßgespenstes gleicht, dazu genügen ihr die Wände, die im Winter immer viel zu dünn sind, wie dick sie auch sein mögen.

    Also machst du dich auf die Suche nach Wärme, und was würde sich anbieten, noch dazu in dieser Stadt, wenn nicht die allgegenwärtigen Kaffeehäuser, dorthin flieht alles im Winter, alles rennet, rettet, flüchtet und findet sich wieder in einem Kaffeehaus, mit einer Tasse auf dem unweigerlich viel zu kleinen Tisch, allein, zu Zweit, in kleinen Gruppen: die alten Damen, die alten Herren, die beinahe-schon Sandler, die Yuppie-Aufsteiger, die letzten der wahren Revolutionäre, harmlose Studenten und vertrocknete Jungfern, Chefs, Sekretärinnen, Huren. Im Kaffeehaus treffen sich alle auf der Suche nach Wärme, und mitten dazwischen du, genauso durchfroren, der erste große Schwarze ist schon in deinem Magen, der zweite halb geleert, zum dritten wirst du dir einen Cognac bestellen, bevor der Koffeinrausch einsetzt mit seinen delirium-tremens-ähnlichen Symptomen.

    Sitzt also da, vordergründig mit einer jener Zeitungen beschäftigt, deren angebliche Wichtigkeit du fraglos akzeptierst, weil nur der durch sie gegebene Anschein von intellektueller Hirnwichserei dich schützt vor jenen Subjekten, die es sich in den Kopf gesetzt haben, ihre winterliche Einsamkeit partout mit jemandem teilen zu wollen, mag die oder der Auserkorene nun wollen oder auch nicht. Liest aber nicht oder doch: kaum noch, ein Satz hie und da, ein Wort, das aus dem ansonsten immer mehr verschwimmenden Buchstabengewirr den weiten Weg bis in dein Hirn schafft, ein Pferdeapfel unter lauter Fliegenscheiße, dem es gelingt, die Gedankenkette zu unterbrechen, die wie schon so oft in deinen Ganglien Ringelreihen tanzt.

    „Wer bin ich?“ ist der Ausgangspunkt, und unwillkürlich rekapitulierst du: Den zweiten Teil der wilden 60er gerade eben noch als schreiendes Kleinkind miterlebt, hie und da auch mit glänzenden Augen unter dem Weihnachtsbaum, in den psychedelischen 70ern dann eingeschult, nachmittags aber immer wieder zwischen den Großen, denen, die noch studierten, denen, die vom ersten, zweiten oder dritten Indientrip wiedergekommen waren (vom vierten kamen nur noch wenige zurück) und Fotos gemacht hatten oder auch nicht, aus Prinzip nicht; zwischen denen, die immer etwas von einer besseren Gesellschaft zu erzählen hatten (die einzige Gesellschaft, die du damals gekannt hast, war die Elektrizitätsgesellschaft) und denen, die sagten, man müsse endlich realistisch denken; zwischen denen, die nicht ganz ehrlich aussahen, wenn sie meinten, die RAF ginge zu weit, und denen, die sagten, so etwas schade nur der Bewegung (und „Bewegung ist gesund“, sagte deine Großmutter zu dir); zwischen denen, die aufs Land zogen, unbrauchbare Gefäße töpferten und nur noch Pullover aus reiner, kratzender Schafwolle trugen und denen, die mit leuchtenden Augen von einem neuen Zeitalter sprachen und die Computer meinten.

    Zwischenzeit, schon damals, die einen kamen zurück, die anderen zogen aus, und die dritten, nun, die waren gar nicht losgegangen, belächelt von den beiden anderen Sorten, die sich nichtsdestoweniger am liebsten auf den Grillparties der Dritten trafen. Mit acht die Baader-Meinhof-Bande gegründet, auf dem Schulhof, und ersten Feminismus geübt, indem du dich geweigert hast, auf dem Hof die Rückkehr der Buben zu erwarten. Die Mädchen durften eine Zeitlang Spähtrupps gründen, bis die Mütter das verboten, denen die dreckigen, zerrissenen Hosen der Buben genug zu schaffen machten.

    Danach hast du etwas enttäuscht zu Karl May gewechselt, allen Erwachsenen widerstanden, die versuchten, dir pädagogisch wertvollere Lektüre in die Hand zu drücken, und nicht begreifen können, wie jemand angesichts des großen Winnetou die Brauen runzeln konnte. In dieser Zeit hast du begonnen, die schönen Kleider abzulegen, in die man dich gesteckt hat, und nichts mehr angezogen als Jeans und T-Shirts.

    Die 80er hatten noch nicht begonnen, als du ins Gymnasium kamst, Internat, versteht sich, diesmal nicht: Zwischenzeit – sondern Zwischenwelt. Hast dich damals schon abgesondert, eine unverständliche Vorliebe für Latein entwickelt, zuerst, dann, als die anderen im Schlafsaal Disco spielten und vom Wochenende träumten, an dem sie endlich Ihren Freund wiedersehen würden, die längst veraltete Edith Piaf gehört und von dem einen geträumt, der ganz anders war, noch später allerdings der Liebe vor dem ersten Versuch den Rücken gekehrt, weniger deshalb, weil dich deine Großmutter bei jedem Besuch ermahnte, von den Männern fernzubleiben, weil die ja doch nur das eine wollten, vielmehr: weil wahre Helden einsam sind. Und Held wolltest du sein, geschlechtslos wenn möglich.

    Danach hast du die UNI unsicher gemacht, bald aber, enttäuscht von alleden scheubeklappten Strebern, die mit Politik nichts am Hut hatten, nicht einmal mit der naheliegendsten, dich aus dem Staub gemacht und anderswo ein letztes Paradies gefunden, mit Leuten, die – so dachtest du damals – wie du zu intelligent fürs studieren waren, die ersten Joints geraucht, Nächte verdiskutiert und dich dem Blues ergeben, hingegeben, ach, und endlich Sex.

    Die Uni aus den Augen verloren, statt dessen Jobs, mal gut, mal schlecht, ein paar Mal bist du raus aus diesem Land und hast „ganz natürlich“ irgendwo am Meer gelebt, für ein paar Wochen, Monate, doch das war immer sommers und immer waren da andere wie du.

    Und dann, dann hat die Zeit sich überschlagen, ein Job wie der andere, hast in den einen oder anderen politischen und grünen Verein hineingeschaut, doch die waren alle kurzlebig, so labil wie dein verlorenes Paradies, und genausowenig Heimat wie deine Untermietzimmer.

    Und heute sitzt du also da, liest profil, die Zeit, konkret, so durcheinander wie sie eben auf den Kaffeehaustischen liegen, und fragst dich, was du jetzt wohl bist. Nicht so berühmt wie die Jelinek, nicht so tot wie Romy Schneider, doch ganz bestimmt nicht so ein Arschloch wie diese Tussy da drüben, im Schneiderkostüm, das Handy malerisch am Tisch plaziert, rührt sie seit 3 Minuten in der Mokkatasse und starrt dabei angestrengt in den „trend“, ohne daß ihre Augen sich bewegen, ein Musterbild versetzter Yuppie-Feminität.

    Du seufzt und greifst zum Telefon, rufst die Freundin an, die mit der Gitarre, ob sie nicht heute kommen will, du könntest Wein kaufen, ein netter warmer Abend, mit Musik, Gedichten, na, wie wär´s damit? Doch nein, die ärmste, sie ist frisch verliebt, alle zwei Monate passiert das, zwei Wochen Glück, sechs Wochen „nie mehr wieder“, bis zum nächsten Mal. Du wirst aufs nächste Treffen noch zehn Tage warten müssen, vier Tage kennen sie sich schon.Kurz denkst du noch darüber nach, wen du noch fragen könntest, gibst aber auf: Die anderen leben alle viel zu sehr in der Zeit, müssen dieses, sollen jenes, fragen dich, ob du den Film gesehen, die Ausstellung besucht hast, das brauchst du nicht. Du brauchst ein Wesen, mit dem du aus der Zeit fallen kannst, platsch mitten hinein ins nirgendwo.

    Du gehst nach Hause, durch die Kälte, dort wartet ein Buch. Sitzt mit der Decke auf den Knien ganz nah beim Ofen, die Katze schnurrt heran und läßt sich auf dir nieder, das läßt dich hören, wie still die Stille ist. Das Buch schon halb vergessen fragst du dich ob du spinnst. Du gehst zum Radio, drehst es auf, horchst ein Weilchen. Dort läßt ein Roland seine Anita grüßen und bittet sie, ihm zu verzeihen, weil er sie doch so liebt. Ob denn der Song ihr gar nichts mehr bedeuten würde? Und schon preßt hektisch Hip-Hop in den Raum, quellen prügelnde Bässe aus den Lautsprechern, rapt ein Möchtegern-Streetgang-Junge paranoid von Revolution, unterstützt von hysterisch kreischender Weiblichkeit im Hintergrund. Zuviel. Abdrehen.

    Der Fernseher vielleicht? Doch da grinst Peter Alexander seine Show, der Fendrich ist auch da, und dich erdrückt eine Vision von hunderttausend Frauen, die mit feuchten Höschen vor dem Fernseher sitzen, vom Rainhard geknutscht werden wollen die jüngeren, dem Peter tief in die Augen sehen die Omis. Jetzt singen sie auch noch ein Weihnachtslied, die Verführer der Nation, und du fragst dich, wie du hier leben kannst, im Land des Musikantenstadels.

    Du hast wohl den Faden verloren, denkst du, die, die ganz anders waren, sind allesamt verschwunden, und mit dem, was du da siehst, hast du nichts gemeinsam. Nichts. Da ist sie nun, die Weihnachtsdepression.


  • Wie alles begann…

    Wie alles begann…

    Erstmals Auftritt mit meinen Texten. Ein Video existiert auch noch davon, irgendwo.


  • Selbstportrait

    Selbstportrait

    [Im Mai / Juni 1986 bin ich fast täglich auf den Schlossberg gewandert, um dort im Schatten “meiner” Mauer zu lesen, Freunde zu empfangen oder ähnliches. Obiges Foto, ein Selbstportrait, war auf dem letzten Film, bevor ich mir Die Kamera (Nikkormat EL, Geschenk von meinem Grossvater) ziemlich blöde bei einem Würstelstand klauen ließ.] (Datum ungefähr)


  • Erstes (und wahrscheinlich einziges) Coverfoto der Chronistin

    Erstes (und wahrscheinlich einziges) Coverfoto der Chronistin

    1986 hatte einen wunderschönen Frühsommer. Ihr erinnert euch vielleicht? Es war das Jahr der Tschernobyl-Katastrophe. Dieses Bild “on the Cover of the Kleine Zeitung” entstand circa einen Monat nach dem Blowup, hatte aber – bis auf den nachträglichen Bildtext – nicht das geringste damit zu tun. Und hier ist die Story dahinter:

    Neben den Grazer Stadtpark-Brunnen stellte Serge Spitzer 1985 im Rahmen des steirischen Herbstes das Brunnenwerk, aka “rostiger Nagel”. Das stieß auf großen Widerstand in der konservativen Grazer Kulturbevölkerung, und so sollte an jenem Morgen, dem 13. Mai, eine große Demonstration gegen diesen “Schandfleck” stattfinden.

    Die Sache mit dem Nagel war etwas kompliziert. Ich fand ihn auch potthässlich, und außerdem hatten wir verspätete Hippiekinder, die wir damals die Wiesen rundum bevölkerten, wegen der malerischen Schräge auch immer wieder Sorge, dass uns das Ding irgendwann auf den Kopf fallen könnte. Andererseits aber waren die Konservativen gegen das Kunstwerk, also mussten wir, zumindest prinzipiell, dafür sein. Im Grunde hielten wir uns raus.

    Die groß angekündigte Demonstration bestand aus nicht ganz 20 Leuten, die das kulturelle Kuckucksei mit Leitern bestiegen und mit weißen Leintüchern behängten. Es war recht früh am Morgen, so acht oder neun Uhr.

    Moment, ich muss doch noch ein bisschen weiter ausholen. Ich “wohnte” damals in einem Zimmer von etwa 8 Quadratmetern, mit – immerhin – fließendem Kaltwasser innen und Klo am Gang. Genaugenommen wohnte ich dort nicht – ich schlief dort. Denn zwischen Aufstehen und Bettruhe lebte ich – mit Anderen, die in ähnlichen Verhältnissen vegetierten – auf Parkwiesen, wenn es warm und trocken genug war, und in Kaffeehäusern, wenn es regnete oder fröstelig war. Abgesehen von spärlichen Stunden in Hörsälen oder etwas häufigeren in der UNI-Bibliothek lebten wir eigentlich auf der Straße. Die Fähigkeit, an einem Kaffee oder einem Bier einen halben Tag lang zu trinken, hatten wir alle perfektioniert, die ewigen Studenten ebenso wie die Straßenmusiker und -maler, die Schmuckverkäufer und die Einfach-Nur-Schnorrer.

    Ich liebte dieses Leben. Ich war niemandem Rechenschaft schuldig und musste niemanden um Geld bitten, gelegentliche Kellnerinnenjobs und saisonale Schmuckverkaufsstand-Aushilfe-Jobs reichten vollauf. Irgendjemand hatte immer etwas zu kiffen dabei. Zukunft? Pah, es gab keine Zukunft. Entweder es würde einen Atomkrieg geben, oder die Umwelt würde kollabieren, lange bevor einer von uns es ins Rentenalter schaffen würde. Und falls es wider Erwarten doch eine Zukunft geben sollte, dann würden wir es schon irgendwie schaffen. Darüber nachzudenken lohnte jedenfalls nicht.

    Dann Tschernobyl.

    Obwohl wir alle immer ständig von der Möglichkeit eines solchen Unfalls sprachen, fast ebenso oft wie vom drohenden Atomkrieg, war es ein Schock. Ein Schock, den wir einander in seltsam triumphierenden Tonfall mitteilten: Hatten wir es nicht vorhergesagt? Hatten wir es nicht immer schon gewusst?

    Wir hatten. Wir hatten recht behalten. Hätten “sie” Mal auf uns gehört, dann hätte das nicht passieren müssen. Schwacher Trost.

    An unserer Lebensart änderte das nichts. Wir lagen weiterhin im wunderbar grünen Frühlingsgras, kauten Sauerampfer, wenn wir durstig waren und nichts zu trinken hatten; wir rauchten die Joints, wie sie vorbeikamen, ohne zu fragen, wo das Kraut gewachsen war. Nicht, dass uns die Sache mit der Strahlung nicht bewusst gewesen wäre – sie war uns einfach völlig egal. Das lag zum Einen an unserer Überzeugung, dass Tschernobyl nur der Anfang gewesen war – und irgendwann, bald, ohnehin alles in die Luft gehen würde. Zum Anderen an der Überzeugung, dass all diese Strahlung zwar gefährlich und möglicherweise tödlich sein könnte – aber nicht für uns. Wir waren jung. Wir waren stark. Wir hatten Recht gehabt mit unseren Warnungen, wir würden weiter recht behalten – und wir waren unbesiegbar. So einfach war das…

    Zurück zu jenem Morgen.

    Strahlung hin, Strahlung her – diese junge Dame lernt für diverse Prüfungen gern im Grünen. Und weil man ja derzeit nicht im Gras liegen soll, nahm sie eine Bank im Grazer Stadtpark in Beschlag. Dazu Sonnenschein und romantische Musik. Da bekommt man fast Lust, ein wenig mitzulernen.

    So harmlos liest sich der Bildtext. Tatsächlich war ich an diesem Tag sehr früh in den Park gekommen – die Wiese war einfach noch zu kühltaufeucht, um sich gemütlich flachzulegen. Und der Rest meiner Clique war noch nicht da. Und die Demo gegen den rostigen Nagel bot immerhin etwas Zerstreuung. Gelernt habe ich auch keineswegs, vielmehr formulierte ich an einem kitschigen Liebesbrief herum, obwohl ich heute nicht mehr genau weiß, an wen der gehen sollte (die Herzschmerzgründe wechselten so schnell, damals), und die Musik war vermutlich weniger “romantisch” als “klebrigsüß”. Wobei die Grenze natürlich fließend ist.

    Der Fotograf, Harry Stuhlhofer, war abkommandiert, die Protestaktion gegen das umstrittene Kunstwerk “Rostiger Nagel” abzulichten, fand diese aber offenbar ebenso lächerlich wie ich. Er kreiste eine Weile um den Event, kreiste sich dann näher an mich heran, blinzelte ein bisschen in meine Richtung, erst ferner, dann näher, und fragte mich schließlich – nicht, ohne sich korrekt als Fotoreporter der Kleinen Zeitung vorzustellen – ob er mich fotografieren und das daraus resultierende Foto anschließend veröffentlichen dürfte. “Klar” nickte ich sehr cool, und erzählte ihm auf seine Nachfragen freundlich, dass ich Geschichte studiere und für meine Sommerprüfungen lerne. Es klickte 1-2, vielleicht 3 Mal, ich hielt das fälschlicherweise für einen gut getarnten Annäherungsversuch und lächelte weise und abgeklärt, folgte freundlich seinen Haltungsanweisungen (beachte die lässige aber völlig funktionslose Hand auf dem Kassettenrekorder!) und war etwas überrascht, als er sich ohne weiteres bedankte und verabschiedete.

    “Vielleicht ein plötzlicher Anfall von Schüchternheit” mutmaßte ich, als ich später meinen endlich erschienenen FreundInnen davon erzählte. Wir lachten herzlich und dachten nicht weiter darüber nach.

    Was sonst noch an diesem Tag geschah, weiß ich nicht mehr. Wir machten wohl unsere übliche Stadtpark-Schlossberg-Abendlokal-Runde. Vielleicht war es der Tag, als ich nach einem Mega-Joint aus dem Kinderkarrusell gefallen bin und mich, die ganze rechte Seite blutig zerschrammt, weigerte, mich verarzten zu lassen, weil das einen Krankenschein verlangt hätte, den ich ohne Kontakt zu meiner Großmutter nicht hätte bekommen können. Vielleicht auch war es der Tag dieser viel sanfteren Geschichte. Wahrscheinlich aber weder noch, wahrscheinlich war es ein ganz normaler Tag ohne weitere besondere Vorkomnisse, und abends lag ich entweder in meinem eigenen viel zu weichen oder in einem fremden, zärtlicheren Bett.

    Am nächsten Morgen jedenfalls war ich, ganz normal und wie eben damals jeden Tag, auf dem Weg durch die Herrengasse und anschließend durch die Sporgasse in “unseren” Stadtpark, als ich einen Freund traf, der mir auf 20m Entfernung zurief “Hej Svensk” (so mein Real-World-Nickname damals) – “du bist auf der Kleinen Zeitung!” – Ich hielt das für einen Joke, so einen, wie wir sie tagtäglich miteinander machten. Natürlich kannte er, wie alle anderen näher und entfernter Bekannten, die Story vom Vortag. Perfekte Umsetzung. Nur unter lachendem Protest ließ ich mich in die nächste Zeitungs-Verschleißstelle ziehen, in der ich…

    …mich selbst auf dem Cover bewundern konnte. Falls man bei einer Kinnlade, die klappernd irgendwo in Kniehöhe aufschlägt, von bewundern sprechen kann. Sekunden zogen sich zu innerlich empfundenen Stunden, sogar die Kassenkraft kombinierte “Des sind ja sie!”. Ich flüchtete, ohne die Zeitung zu kaufen, und entschuldigte mich innerlich beim Fotografen für meine Verdächtigungen vom Vortag. Obwohl mich viele Freunde und Nicht-Freunde darauf ansprachen, war ich zu verblüfft und später zu verlegen, um mir mein eigenes Exemplar zu sichern – und so ist es nur dem langjährigen Kleine-Zeitung-Abonnement meiner Großeltern zu verdanken, dass ich dieses Cover heute auch vorzeigen kann.


  • Der glückliche Löwe

    Der glückliche Löwe

    [“Der glückliche Löwe” ist eine Märchenplatte, die ich in meiner Kindheit über alles geliebt habe. So sehr, dass ich sie auswendig konnte. Ich muss sie hunderte Male gehört haben, bevor sie den Weg alles Irdischen ging: In mehrere Teile zerbrochen fand ich sie eines Tages, nach der Rückkehr aus der Schule, im Müllkübel vor. Bittere Tränen wurden vergossen. Mütterliche Entschuldigungen samt Erklärung (ich sollte eben nicht immer alles am Boden liegen lassen) huldvoll, aber untröstlich entgegengenommen. Als meine Mundwinkel eine Woche nach dem Vorfall immer noch hartnäckig nach unten zeigten, zog meine Mutter los, um Ersatz zu besorgen. Das war nicht einfach; die Platte musste bestellt werden, das dauerte eine Weile. Endlich war sie da. Strahlend nahm ich sie entgegen, befreite sie aus den Hüllen und legte sie auf den Plattenteller. Ganz vorsichtig, wie der Großvater mir beigebracht hatte, legte ich die Vinyl-Scheibe auf den Teller, hob die Nadel an und ließ sie auf die Rille gleiten. Hörte etwa eine halbe Minute lang konzentriert zu. Ging dann erbost zum Plattenspieler, schaltete ihn aus und versackte die Platte in ihren Hüllen.

    Der Anfangssatz meines Märchens hatte nämlich gelautet: “Es war einmal ein glücklicher Löwe. Er lebte in Afrik *knirsch* Jäger mit ihren Gewehren wohnen”. Der erste Satz auf dieser Platte lautete: “Es war einmal ein glücklicher Löwe. Er lebte in Afrika, dort, wo auch die wilden Jäger mit ihren Gewehren wohnen.”

    Die Platte ohne Kratzer war einfach nicht meine Platte, und ich wollte sie nie wieder hören.

    Ein einziges Mal habe ich die Platte danach noch aufgelegt, als nämlich ein Volksschulfreund während des Unterrichts krank wurde und ich ihm, da seine Mutter erst abends aus der Arbeit kommen sollte, Asyl auf unserer Couch anbot. Ich wollte ihm unbedingt etwas geben, verliebt wie ich war (verliebt, wie man mit 9 Jahren eben sein kann), und das Beste, was ich zu geben wusste, war die Geschichte vom glücklichen Löwen.

    Naja. Er war eingeschlafen, noch bevor die bösen Jäger den glücklichen Löwen gefangen und für den Zoo verschifft hatten,  und ich lief auf Zehenspitzen um die Couch herum und versenkte die Platte wieder im Regal.]


  • Untröstlich [Datum ungefähr]

    Untröstlich [Datum ungefähr]

    [Grade heimgekehrt aus Koper und die ganze lange Fahrt zurück untröstlich, weil ich da unten zum allerersten Mal in meinem Leben Freundschaft geschlossen hatte. Es war ein Mädchen in meinem Alter, damals also 6 Jahre alt. Sie war aus Maribor und konnte Deutsch und Slowenisch, was mich endlos faszinierte.

    Der Abschied war ein Abschied fürs Leben, das war klar und todtraurig. Und unaussprechlich. Meine Eltern hatten keine Ahnung, warum ich Tränenseen heulte, und waren schwerst besorgt. Nach der Heimkehr schenkte mir mein Vater das Radio, links im Bild, um mich aufzumuntern. Ich trug es in mein Zimmer, erbettelte einen Schraubenzieher und zerlegte das Ding.

    Transistoren, Widerstände und die Platte, auf der das aufgelötet war: Ich wusste nicht, wie das Kleinzeugs hieß, breitete es aber fein sortiert auf meinem Fensterbrett aus. Wochenlang verweigerte ich meiner Mutter die Erlaubnis, den angeblichen Abfall wegzuräumen, und versuchte zu ergründen, wie aus diesen unscheinbaren Bauteilen Musik werden konnte, wenn man sie richtig zusammensetzte, aber ich durchschaute es nicht. Dann kam ich eines Tages von einem Spaziergang mit meinem Vater zurück, und alles war weg.

    Es war genau wie mit den Meerschweinchen. Die waren auch eines Tages einfach weg.]

    [Datum ist ungefähr]