Wann bin ich zum letzten Mal geflogen?, fragte ich mich beim Aufbruch zu dieser Dienstreise. Wann war ich das letzte Mal in Berlin? Der letzte Flug ist etwa zwei Jahre her, und ich wäre ja auch diesmal lieber mit dem Zug gefahren, aber die Agenda lässt sich nicht mit dem Nachtzug vereinbaren. Sie lässt sich auch nicht mit dem vereinbaren, was ich mir bei der letzten Vorbeifahrt 2014 für mein nächstes Mal Berlin vorgenommen hatte. Internette Menschen treffen, Tage- und nächtelang spazierengehen, Spurensuche. Schade. Flugbedingt sehe ich immerhin einmal den irgendwann doch fertig gewordenen Flughafen BER, obwohl es länger dauert als gedacht. Die Wetterlage verspätet den Flug um eine gute Stunde. In Schwechat ist übrigens Baustelle.
Am Gate muss ich zum dritten Mal (nach online-Checkin und extra-email) erklären, dass ich bereit bin, die Verantwortung, die ein Sitz am Notausgang mit sich bringt, auf mich zu nehmen. Ich wurde zufällig dorthin verteilt, der Zweimeter-Mensch neben mir hatte extra Geld für die Fußfreiheit bezahlt. Der Sparkurs der Fluggesellschaften hat sich noch einmal verschärft; gab es beim letzten Flug noch Wasser mit oder ohne Kohlensäure, Kaffee oder Tee gratis, ist mittlerweile nur noch stilles Wasser ohne Aufpreis zu haben. Ich lächle still in mein ebensolches Wasser. Immerhin erlaubt der Fensterplatz hübsche Ausblicke.
Als wir Berlin erreichen, ist es nach neun, ein Zimmer im Flughafenhotel ist für mich gebucht, Uhrzeit und Wetter vertreiben letzte Träume von abendlichen Ausflügen. Zwischen Terminal 1 und 2 sammle ich noch ein paar Schritte in der Hoffnung auf ein erfreuliches Abendessen, gebe aber nach der dritten verregneten Durchquerung des Willy-Brandt-Platzes ernüchtert auf. Was für eine unberlinerische Flugplatz-Ödnis. Überall stehen Polizei-Busse. Ob das schon wegen der EM ist, frage ich einen freundlich dreinblickenden Jungpolizisten. Nein, Selensky ist in der Stadt, erklärt er mir. Zwischen Hotel und Busbahnhof befällt mich große Lust, nachhaltig verloren zu gehen, doch es regnet jetzt stärker.
Im Hotel entscheide ich mich für eine abendliche Currywurst, die weder mit dem Curry noch mit der Wurst punkten kann, und trolle mich dann aufs Zimmer, in dem sich die Fenster gerade mal kippen lassen. Pluspunkt: Tolle Matratze, tolle Polster. Minuspunkt: Lärm. Nicht vom Flughafen, wie man erwarten könnte, sondern intern. Die Toilettenspülung von oberhalb wie ein Wasserfall im Dschungel, der Fernseher von nebenan verbreitet Stadionstimmung, und als es ringsrum endlich still wird, knackst es da und dort kräftig im Gebälk. Das hätt ich akustisch in einem nagelneuen Hotel so nicht erwartet.
Der nächste Morgen kalt und windig. Im Frühstücksraum jetzt keine Polizei sondern Militär, französisch und deutsch. Ein Mehrsterniger schmiert sorgfältig Butter auf diverse Brötchen und verstaut die dann nach und nach in seinen zahlreichen Uniformtaschen. Bonjour, sage ich am Kaffeeautomaten zu einem Einsternigen, und das französische Wort fühlt sich an wie ein Marshmallow im Mund. Nach dem Joghurt trage ich meinen Cappuccino vor die Türe, Kaffeegeschmack, Zigarette und Regenluft sorgen für ein unerwartetes Glücksgefühl. Letztendlich bin ich verloren, aber nicht gegangen.
Dann ist es auch schon Zeit für den Treffpunkt. Vertraute und unvertraute Gesichter versammeln sich am Busbahnhof, wo der Bus auf sich warten lässt. Stau wegen der Straßensperren wegen dem Selesnky, sagt man. Vor beinahe schwarzen Wolken landet eine Finnair, der Runway ist näher, als ich gedacht hätte. Die Stuttgarter üben sich in Berlin-Bashing, ich halte ein bisschen Wiener Berlinliebe dagegen. Alles sehr freundlich, natürlich.
Dann geht es im kohlschwarzen Bus nach Süden, Richtung Potsdam, ein bisschen östlich davon. Mich beschleicht ein Skandinaviengefühl, das mich in weiterer Folge begleitet. Derweil Spargelei in allen Facetten. Spargel, Spargelstraße, Spargelfest, Spargelhof, Spargelstadt. Dazu Pferde auf der Weide, ein knallrotes Plastik-Känguruh auf einem Neubau-Balkon. In meinem Kopf Narzissen und Kakteen.
Beelitz scheint auch jenseits der Betriebsbesichtigung interessant. Die Bäckereifachverkäuferin schwärmt von den Katakomben der Lungenheilstätte. Auf dem Rückweg ist dösen explizit erlaubt, ich schaue aber lieber in die vorbeiziehende Gegend.
An der Autobahn überall noch Schilder Richtung ILA, obwohl die doch schon vor meiner Ankunft zu Ende gegangen ist. Sie soll dieses Jahr noch militärischer gewesen sein als eh schon immer, weiß einer der Mitfahrenden. Der Busfahrer bestätigt diesen Eindruck.
Noch eine Besichtigung, ebenso interessant. Auf dem Weg zum Hotel am Fesselballon vorbeigefahren, immerhin gibt es den noch immer. Wir residieren an der Friedrichsstraße, gleich ums Eck von eh allem. Am Zimmer gibt es noch Festnetztelefone, eins am Nachtkastl, eins neben dem Klo. Das ist wohl für die ganz wichtigen Geschäfte.
Etwas Zeit zum Frischmachen, mehr Programm. Dann auf zum Abendessen in der Ständigen Vertretung. Natürlich muss man in Berlin immer mit allem rechnen, aber mit Kölsch und rheinischen Spezialitäten hatte ich tatsächlich nicht gerechnet.
Ein gemeinsamer Sightseeing-Verdauungsspaziergang durch das Regierungsviertel; beeindruckend die Multimedia-Installation zur deutschen Zeitgeschichte, ernüchternd die Sicherheitscontainer vor dem Reichstagsgebäude.
Wo wohl die Punks von 2006 jetzt sind, frage ich mich. Den Weg in dieses Blog haben sie dummerweise (noch) nicht gefunden, aber die bunte Gruppe mit dem Schild „Foto: 1 Euro“ lebt seit damals mietfrei in meinem Kopf. Das Brandenburger Tor viel malerischer beleuchtet, als ich es in Erinnerung habe. Dahinter wächst eine Public Viewing Area für die EM.
Morgens in der Friedrichsstrasse viel Leben. Und schon bei der ersten Zigarette wieder diese Lust, verloren zu gehen. Was macht eigentlich den gefühlten Unterschied zwischen Wien und Berlin aus, frage ich mich, während sich die Gruppe langsam sammelt. Da kommt ein einzelner Krishna-Jünger vorbei, in knallorangem Daunengilet und knalloranger Hose anstatt wallenden Gewändern. Er schiebt eine Soundanlage auf zwei Rädern vor sich her, aus der indische Klänge kommen, und singt zwischendurch ein bisschen dazu. Einen Augenblick lang scheint mir dieser Anblick mitten im Regierungsviertel die Essenz von Berlin zu sein, andererseits hatten wir doch auch unseren Wiener Waluliso.
Als alle da sind, geht es kreuz und quer von Termin zu Termin. Inhaltlich ist alles dabei von „wow, spannend!“ bis hin zu „warum um alles in der Welt?“. Auf den Wegen und U-Bahnstrecken dazwischen sammle ich Eindrücke.
Berlin riecht nach frischem Brot und nach frisch gemähtem Gras, notiere ich. Die U-Bahn riecht nach Bahn, ganz anders als in Wien, wo sie entweder gar nicht oder widerlich nach Schwefel riecht. In die Berliner U8 steigt ein Typ mit einem Rasenmäher, ohne dass sich jemand nach ihm umdreht. Ein anderer unterhält sich in Gebärdensprache mit dem Nachrichtendisplay, entdeckt dann meine Ohrringe und gestikuliert seine Begeisterung still, aber irgendwie dennoch lautstark. Eine Tür weiter lässt sich ein gelangweilter Pudel nur schwer zum Aussteigen bewegen.
Schließlich ist das offizielle Programm beendet, und mir bleibt noch etwas mehr als eine Stunde, um verloren zu gehen, bevor es Zeit für den Rückflug ist. Ich kaufe einen Band Lyrik, so viel Literaturliebe muss sein, und ein paar Ansichtskarten. Dann irre ich ein Weilchen herum, auf der Suche nach Briefmarken. Aber in den Eingeweiden des S-Bahnhofs Friedrichsstraße lassen sich sogar die finden. Jetzt noch ein Café zum Kartenschreiben, und dann…
Das Café kommt mir schwedisch vor. „Einen Cappuccino, ein Mineralwasser und ein Croissant bitte“, sage ich. Das ist natürlich naiv. Nicht nur muss ich die Größe der Tasse und die Art der verwendeten Milch spezifizieren, das Mineralwasser als prickelnd und das Croissant ohne Füllung, es gilt auch noch zu klären, ob zum Mitnehmen und ob ich ein Glas zum Wasser will. Nachdem alle Zweifel ausgeräumt sind, stemmt das Gör hinter der Theke die Hände in die Hüften und deklamiert: „leiwand!“ – „Haarscharf erkannt“, grinse ich, und sie beugt sich vertraulich über die Theke und sagt: „Das ist das einzige, was ich auf wienerisch hier sagen kann, weil ‚oaschgsicht‘ passt selten.“ – „‚Oida‘ passt immer!“ rate ich ihr, und sie gibt mir ein thumbs up, bevor sie mich zum Kaffeezauberer weiterschickt.
Draußen vor der Tür ist es immer noch kalt und windig. Ich schreibe meine Postkarten und komme mir blutjung dabei vor. Der Cappuccino ist gut, und ich schaue eine Zigarette lang das vorbeiströmende Leben an. Noch eine Viertelstunde, um verloren zu gehen, aber bevor ich fertig träumen kann, beginnt es wieder kräftiger zu regnen.
In der S-Bahn-Station steht ein improvisierter Info-Stand der Bahn. Ich stelle mich hinter zwei (sprachlich) norddeutschen Pensionisten an, die auch zum Flughafen wollen. Welche S-Bahnen ausfallen, und welche man stattdessen nehmen und wo und wie oft man dabei umsteigen soll, erscheint mir etwas umständlich. Ich frage Onkel Google, der schlägt als Alternative die U-Bahn nach Alt-Mariendorf mit anschließendem Flughafenbus vor. Das gefällt mir. (Hätte ich genauer geschaut, wäre ich mit der U-Bahn nach Rudow gefahren, das hätte deutlich Zeit erspart. Andererseits hatte ich es nicht eilig und freute mich über die Bus-Gondelei.)
In der U-Bahn schlafen zwei Kinder im Volksschulalter, niemand scheint das merkwürdig zu finden. Derweil linse ich aufs U-Bahn-TV. Das Green-Day-Konzert auf der Waldbühne war eine Wasserschlacht, erfahre ich, und der Ex-Salzburg-Trainer geht nach Köln. Ich stelle mir vor, wie ich mein neues Wissen verkünde. ‚Struber geht nach Köln‘ könnte ich sagen, ‚habe ich in der U-Bahn in Berlin gelesen.‘, könnte ich sagen. Aber die, die das interessiert, wissen es längst, und sie würden die Berliner U-Bahn auch nicht cooler finden als die heimische. Obwohl sie doch so kompromisslos gelb ist. Der bisher schlafende Junge schreckt hoch, liest den Stationsnamen und seufzt erleichtert. Er streckt sich langsam und tupft dann dem immer noch schlafenden Mädchen auf die Schulter. Sie sortieren Rucksäcke und Jacken und steigen an der nächsten Station aus. Wenn ich nur ein bisschen mehr Zeit hätte, denke ich, könnte ich zumindest einen Blick auf das Tempelhofer Feld werfen. Aber ich hab sie halt nicht, diese Zeit.
Alt-Mariendorf riecht nach regennasser Staubstraße und nach Zigarettenrauch, nur ein flüchtiger Hauch Döner durchbricht die vorstädtische Nasenmonotonie. Der Bus kommt pünktlich und gondelt erwartungsgemäß. Eine Frau erkundigt sich bei einer anderen, was die denn für ihren Porree bezahlt hat; die 5 Euro/Kilo beim Rewe kämen ihr utopisch vor. Die andere hat den Porree beim Aldi gekauft und weiß nicht mehr für wieviel genau. Beide seufzen noch ein paar Stationen lang über die Teuerungen.
Der Flughafen ist noch genau so langweilig wie vorgestern. Ich hätte auch nichts anderes erwartet. Aber immerhin ist der heutige Flug pünktlich.
Für mich ist der Hauptunterschied zwischen Wien und Berlin die Weitläufigkeit. In Berlin liegt zwischen Allem so viel Abstand dass überall Platz für erstaunliche Soziokulturelle Biotope bleibt. Die zu entdecken kann Glücksgefühle auslösen. In einer zugewachsenen Stadt wie wien bleibt dafür immer weniger Platz und der definiert sich fast nur noch über die Kohle.
Die Weitläufigkeit ist sicher ein Punkt. Aber irgendwie liegts auch am selbstbewusstsein der Biotop-Bewohner. Die nehmen sich einfach ihren Raum, das macht bei uns kaum eine*r.
Je knapper der Raum kdest …
desto