Heute früh im Stiegenhaus wär ich beinah vom Donauwalzer umgerannt worden. Natürlich war der nicht ganz allein unterwegs, aber sein Träger war klein, schmächtig und dunkel gekleidet und daher leicht zu übersehen – der Donauwalzer dagegen füllte das Haus mit einer akustischen Wucht, als hätte man die Philharmoniker drei Mal geklont und alle zusammen in der heruntergekommenen Hütte quadrophonisch Aufstellung nehmen lassen. Ich schaute kurz nach oben, ob nicht vielleicht Herr Karajan armfuchtelnd und mit irrem Blick an der Deckenlampe schaukelte, aber so hoch war das Fieber dann doch nicht mehr.
Unterwegs, ich wollte endlich meine frischen, klaren Kontaktlinsen abholen, überlegte ich, was man wohl aus der Klingeltonwahl mancher Menschen ablesen kann. Der Schatten, der knapp an mir vorbeigezischt war, hätte jedenfalls – soweit ich ihn gesehen habe – eher nach Top-#1-Hitparaden-Gedudel ausgesehen, oder allenfalls noch nach Jugopop. Dann machte ich mich seufzend auf eine weitere Kontaktlinsen-Session gefasst.
Die Sache ist nämlich so: Seit 15 Jahren, seit ich also den Augenarzt gewechselt habe, lief das Kontaktlinsentauschen (alle 1 1/2 bis 2 Jahre) immer gleich problemlos ab: Zur Ärztin, Augenhintergrund prüfen, Stärke messen, nichts verändert, “wir bestellen ihre Linsen”, spätestens eine Woche darauf waren sie da. Aber alles ändert sich, und manche Dinge waren wohl einfach zu einfach. Als ich nämlich, vor ein paar Wochen, wieder einmal neue Linsen brauchte, wurde mir strahlend eröffnet, es gäbe jetzt eine völlig neue Kontaktlinsen-Art, natürlich schöner, besser (und teurer), die – mandenkenur! – an die individuelle Oberflächenstruktur der Hornhaut angepasst wird und daher noch mehr Tragekomfort und Sehschärfe zu bieten hätte. Mein Einwand, ich hätte weder an Tragekomfort noch an Sehstärke der “alten” Sorte irgendetwas auszusetzen, wurde beiseitegewischt: “Der Fortschritt, siewissenja, und außerdem werden die alten bald nicht mehr hergestellt.”
Na dann. Nach der Sehstärkenmessung – nichts verändert – ging es zum Optiker, und dort an ein neues Gerät, das aussieht wie eine Peil-Antenne mit einer roten Spirale drin. Die rote Spirale besteht, wie der Optiker stolz erklärte, aus ichhabevergessenwievielen kleinen Laserpunkten, die die Hornhaut abtasten und ein individuelles Profil erstellen. “Nicht bewegen, nicht blinzeln!” – Ich bewegte und blinzelte nicht, sondern wurde langsam schwindlig vom spiralförmigen Rotlicht. Optiker und Ärztin begutachteten fachmännisch den daraufhin von der Maschine ausgespuckten Ausdruck, murmelten vor sich hin und verpassten mir “Probelinsen”, also solche fast ohne Sehstärke, mit denen ich eine Stunde lang die Welt betrachten sollte (“Aber nichts anstrengendes wie Computer oder Lesen!”). Nach diesem unerwarteten Spaziergang mitten an einem Arbeitstag wurde nochmals meine Sehstärke vermessen, nochmals ausgiebig mein Augenhintergrund betrachtet, dann wurde ich entlassen. “Ca 14 Tage – wir rufen sie an.”
Als sich nach 3 Wochen noch nichts getan hatte, fragte ich einmal nach. Ich möge am nächsten Tag vorbeikommen, wurde mir beschieden. Die Ärztin wühlte in einem Berg von Kontaktlinsenfläschchen, fand nicht, was sie suchte, betrachtete skeptisch mein Datenblatt und kam zu dem Schluss: “Irgendetwas stimmt hier nicht.” Also wurde nochmals mein Augenhintergrund betrachtet und meine Sehstärke vermessen (noch immer unverändert). Den Vorschlag, noch einmal mit Probelinsen spazieren zu gehen, lehnte ich mit Hinweis auf meine Auftragslage ab. Die Ärztin nickte verständnisvoll, unterstrich eine Notiz auf dem Datenblatt und verabschiedete mich mit den Worten: “Ca 14 Tage – wir rufen sie an.”
Am Dienstag kam der ersehnte (die alten Linsen werden mittlerweile doch recht schnell trocken) Anruf: Freitag beim Optiker.
Ich war da.
Die Linsen nicht.
Der Optiker betrachtete skeptisch das Datenblatt. “Irgendetwas stimmt hier nicht…” murmelte er irritiert. Ob ich denn schon mit den Probelinsen spazieren gewesen wäre. Ich zeigte wortlos auf den unterstrichenen Satz im Datenblatt. Er nickte und verglich die zuletzt angegebene Sehstärke mit meiner Brille. “Irgendetwas stimmt hier nicht…” murmelte er nochmals und schlug vor, ich solle am Montag nochmals die Ärztin aufsuchen.
Was bleibt mir anderes über. Aber ich denke fast, ich werde dann darauf bestehen, doch schnell noch einmal die alte Sorte zu bestellen. Über den Fortschritt werde ich mich in zwei Jahren genau so freuen…
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