In Zügen bin ich immer froh

7. April 2001

Nein, heute ist nicht die strahlendste aller Wetterlagen, trotzdem ist die Luft frühlingsklar und lässt Gebäude, Bäume, Autos strahlen als wären sie aus Glas.

Am Südbahnhof hektische Betriebsamkeit, schliesslich fangen heute die Ferien an, alles voller Menschen, die nach Hause oder auf Urlaub fahren wollen, glücklich oder genervt, und dann bin ich im Zug und finde ein Plätzchen, tatsächlich, im Abteil mit einem scheu lächelnden ebenfalls Hennaroten Mädel, und später kommen noch andere dazu, aber die sind nicht wichtig.

Die Zugbewegung macht mich ruhig, zufrieden, wie ich das gewohnt bin. In einem Zug zu sitzen etliche Stunden lang: Das befreit von der Last des Irgendwo-Seins, ich bin geborgen in der stetigen Bewegung, die mich zu einem flüchtigen, ungebundenen Wesen macht.

Und ich packe mein Buch aus und zünde mir eine Zigarette an, und der Zug fährt los. Die Dinge schauen ganz anders aus heute, hinter dem Bahnhof Meidling zum Beispiel ist eine Baustelle, dahinter ein Friedhof, den man bislang nie gesehen hat, und ich bin verwirrt: Bin ich in der richtigen Stadt, im richtigen Zug? So fremd sieht das aus, auf der Backbordseite des Zuges, aber an Steuerbord ist alles in Ordnung, derselbe gute alte Bahnhof: von hunderten von Zugfahrten bekannt.

Dann hinaus aus der Stadt durch die Industrieanlagen, die aufgegebenen, die alten aber noch in Betrieb stehenden, die neueren und die ganz neuen. Eine Bilderserie müsste her, denke ich, und: das ist der Maschinenraum der Stadt. Die alten, fleckigen Ziegelhallen , schon lange leer, auf den Fassaden noch altdeutsche Schriftzeichen, verwaschen, verblasst, Die Dachziegel teilweise abgefallen, die Höfe überwuchert von Gestrüpp. Dazwischen verrostete Gerätschaften, dermaßen verunstaltet vom Vergehen der Zeit, dass man ihren ursprünglichen Zweck nicht einmal mehr ahnen kann: Nutzlos geworden, entwickeln sie eine Ästhetik der Trümmerkultur. Daneben, im selben Blickfeld, hochmodernes aus Glas und Beton: Kontraste. Und auch wieder nicht.

Ungefähr da habe ich alle Telefonate erledigt, schalte das Telefon aus, jetzt ein bisschen Musik, U2 kommt gerade recht, und dann durch das Wiener Becken nach Süden, die Wolken werden dünner da heraußen und höher glaube ich auch, und da stehen Bäume, die schon blühen und die noch schwarz und wie tot in die Landschaft greifenden bizarren Figuren der Weinstöcke, und die Welt, das Leben, rollt unter mir dahin, und die Musik in meinem Ohr macht aus der Ansicht einen Film, und der gefällt mir.
Und dann, ungefähr in der Höhe von Bad Vöslau, ist da tatsächlich ein Flieger am Himmel, ich hatte gar nicht aufgepasst, plötzlich diese Shilouette im Fenster, ja, das könnte eine Cessna sein da oben – oder auch nicht. Und die schwarzen Punkte daneben, darunter, habe ich mir nur eingebildet. Ganz bestimmt.

Dann die Stimme aus dem Lautsprecher, die die Musik übertönt, wir erreichen in Kürze: Wiener Neustadt, und wieder eine Überraschung im Fensterviereck, 2 Fallschirme, die sich herunterschlängeln, would you believe it?

Noch voller wird der Zug jetzt, und dann geht es weiter durch die eigentlich triste Landschaft der Nadelbaumplantagen, künstlich gepflanzte und daher in Reih und Glied stehende Föhren, dazwischen Wege; schnurgerade, aber gerade dieses Stück liebe ich, aus alter Zeit her noch, wenn diese Landschaft mich begrüßt hat: Im Hitzeflimmern des August kenne ich sie, im klaren Licht der Frühlingssonne, im Regen und im Nebel und schneebedeckt mit einer dünnen, durchsichtigen Schicht oder mit einer dicken Decke strahlend weißen Weichs, und immer war sie ein Versprechen, damals, als Wien mein Fluchtpunkt war – auf dem Weg nach Süden ein beruhigendes: „Du kommst wieder zurück“, und in der Gegenrichtung ein: „Na also, du bist ja wieder einmal entkommen.“

Oft habe ich mir gedacht, dass ich eines Tages dort irgendwo aussteigen werde, um in diesen Wäldern spazierenzugehen, wie die Paare, die ich ihre Kinderwagen durch alle Wetterlagen schieben gesehen habe, oder wie die Jugendlichen mit ihrem Hund, dem sie gerade das Apportieren beibrachten, oder wie die alten Männer, die alten Frauen, die ganz alleine ihre Runde durch diese in ihrer Verbindung aus Natur und Geometrie eigenartig anmutende Landschaft drehen, aber ich bin nie ausgestiegen, und ich bin auch sonst nie hingekommen… eines Tages vielleicht.

Dann hinauf auf den Semmering, hier werden die Wolken wieder dichter, die Landschaft versteckt ihre schroffe Schönheit, und ich verzichte heute auf mein Ritual des Semmering-Biers, dazu habe ich noch zuviel vor, wenn ich erst einmal angekommen bin.

Ach, wozu immer ankommen? Ein anderes Leben: Ein ganzes Leben im Zug.

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