30. Juni 2003

In jener Nacht

Es geschah in jener Nacht: In der Nacht der 3 Tiger. Es war die Nacht, in der sich das Orgasmusgestöhne der Nachbarn in meinem Kopf unwiderruflich mit dem fernen Donnergrollen verband. In diesem Jahr übrigens eine der ersten Nächte, die das Glück der kubanischen Wochen wiedererwecken konnten, angesichts der erwachenden Sommerwärme, die offene Fenster nicht nur erlaubt, sondern vehement und unwiderlegbar fordert.

Viel später legte sich mein Zorn über die aufgezwungene Dauerassoziation; die Schreie waren verklungen, aber der Donner grollte immer noch: weiter weg und wie erschöpft. Hätte man nicht genau hingehört, hätte es auch ein Jet sein können.

Ohne speziellen Grund erinnerte mich das sanfte, beständige Grollen an die Nächte damals in Bibione, in denen es kein Grollen gab, sondern nur Wetterleuchten. Die Fotos von damals sind in 70er-Jahre-Fotofarben verblasst, aber meine Erinnerung weiß andere Farben – und sie weiß Dinge, von denen keine Fotos existieren, das Wetterleuchten eben, dem meine Großmutter (die andere, die väterlichseitige) und ich im ichhabevergessenwievielten Stock zuschauten, und die tägliche Frage im längst dunklen Schlafzimmer, ob es denn nun näher kommen würde, das Gewitter. Ob es denn nun regnen würde, endlich. Manchmal auch, ich bin nicht sicher, aber ich glaube es zu erinnern, manchmal auch ein ganz ferner, sanfter Donner, zwischen dem Geplauder über den vergangenen Tag und den Möglichkeiten des kommenden Tages, die meine Grossmutter und ich, damals, dort, in dem Touristen-Termiten-Bau, jede Nacht erörterten.

Meinen Grossvater, der auch da gewesen sein muss; schliesslich hat er das Auto (einen beigefarbenen Opel-Kombi mit weinroten Sitzen) gefahren und die Unterkunft bezahlt; meinen Grossvater erinnere ich nicht. Er hat nicht viel gesprochen damals; mit dem Reden hat er erst viel später angefangen, als ihm längst keiner mehr zuhörte. Außer mir, vielleicht, manchmal, wenn er die Antwort auf eine Frage wusste, die die staubigen Stapel von Reader’s Digest, die ich jahrelang mit naiver Begeisterung verschlang, nicht beantworten konnten.  Aber egal.

In jener Nacht, als das Gewitter weitergezogen war und meine sexuell befriedigten Nachbarn längst schliefen; als ich in die Erinnerung des Kinder-Italien-Urlaubs eingetaucht und wieder daraus hervorgekrochen war, in jener Nacht flogen die Jets ungewöhnlich tief über meinen traumgestützen Elfenbeinturm; die ganze Zeit: Während des Gewitters & lange danach noch, und während ich mich in den grauenden Morgenstunden durch die letzten Seiten der drei traurigen Tiger kämpfte; immer tiefer zogen sie herein, die zweimotorigen und die viermotorigen erst recht, und ich liege nackt, im Halbschlaf, auf meinem heiligen Hochbett, als wieder einer kommt, noch tiefer als die anderen, viel zu tief – und mit dem Fahrwerk – oder war es das Leitwerk? Das Dach unseres Hauses mitnimmt; vom nächsten noch ein Stück mehr & schließlich ein Feuerblitz- und Donnerschlag; ich, hochgeschreckt, im Bett, das jetzt im Freien steht & nicht mehr auf ein Zimmer hinunterschaut sondern auf die Skyline einer bekannten und doch fremd wirkenden Stadt: Unberührt von dem Drama; von Verbrennung und Tod und von der menschlichen Tragödie, erfüllt nur von dem unsäglichen Verlust meiner Sachen der Fotos, der Briefe, der Tagebücher –


aber das war dann doch nur ein Traum; wie die vielen anderen, ungewohnt nur, dass ich auf der Couch eingeschlafen bin, und das Buch: dieses Buch: noch aufgeschlagen auf dem Schoß.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Previous Story

#242

Next Story

#243