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18. August 2004

Ich muss aus dieser Stadt raus

An jeder Ecke lauern Geschichten, die nur darauf warten, mich anzuspringen; kein Bezirk, kein Winkerl, in dem nicht klebrige Vergangenheit von den Häuserwänden träufelt; siehst du, das ist die Straße, die ich hinuntergewandert bin damals, als ich zum ersten Mal allein hier war, zuversichtlich, binnen einer Stunde ein Studentenwohnheim zu finden, von dem ich nicht einmal den Namen kannte, geschweige denn den Bezirk, ich wusste nur, dass dort an dem Tag eine Party stattfinden sollte. Siehst du, dort ist das Cafe in dem ich mit meinem Partner gesessen bin, damals, als wir überzeugt waren, ein semiprofessionelles Video-Business wäre die Geschäftsidee des Jahrzehnts (für alle, die sich ein professionelles nicht leisten konnten: so wie wir uns professionelle Ausrüstung nicht leisten konnten), vor und nach dem ersten (und vorletzten) Auftrag saßen wir da in diesem Cafe und schmiedeten Pläne; ein paar Tische weiter der Typ, in den ich während meines unvollendeten Geschichtstudiums unsterblich verknallt war; den habe ich da übrigens zum letzten Mal gesehen, bevor er ein paar Jahre später beim großen Lesewettbewerb auftauchte. Ein paar Haltestellen weiter – kann man es denn glauben? – ist da sogar noch die riesige Blase im Beton, an der ich mir seinerzeit den Knöchel verknackst habe, als ich mich um einen Kellnerinnenjob berwerben wollte; den Job konnte ich vergessen, ein Riesenglück, im Nachhinein betrachtet; aber bringen die hier nicht einmal die Straßen in Ordnung? Das ist über 10 Jahre her!

Da ist die Bank, auf der ich, dort ist das Beisl, in dem ich, hier die Brauerei, in der wir, dort die Haltestelle, an der… und da, wo ich mein abendliches Pizzastück hole, dort habe ich schon vor 15 Jahren dann und wann ein Pizzastück; klar haben die Besitzer gewechselt, mehrfach, aber die Öfen sind dieselben geblieben. Und dann erst; als mein zielloses Umherstreifen unbeabsichtigt ein bisschen weniger ziellos wird, als ein Teil von mir mich um eine Ecke zieht, weil da – noch eine Ecke weiter – ein Lokal liegt, in dessen Schanigarten man ein nettes absichtsloses Sommerabendbier trinken könnte; als ich nun wirklich nicht aufpasse und nirgends hinsehe, sondern den Rest von mir frage, ob er mit dieser absichtslosen Absicht einverstanden ist, da streift mein innerlich abwesender Blick ein Schaufenster und ich bleibe stehen, als hätte mich der Blitz getroffen; da, in diesem selben Schaufenster hängt, an der selben Stelle wie vor 20 18 Jahren, derselbe goldumrandete Spiegel wie damals, der Spiegel, in dem ich regelmäßig – wenn ich in ebenjenes Lokal wollte – noch schnell mal überprüft habe, ob die Frisur auch sitzt, ob die Wimperntusche, die ich zu der Zeit noch deutlich häufiger aufgetragen habe als heute, auch nicht verschmiert ist und ob der Lidstrich besser aussieht, wenn ich von unten nach oben oder wenn ich von oben nach unten blinzle; es ist der selbe! ver dammte! Spie gel!

Eine tiefe Trostlosigkeit überkommt mich; ich denke eine Zeitrafferkamera vom Haus gegenüber auf diesen Spiegel gerichtet, eine Kamera, die alle meine Blicke bewahrt hat und auch den heutigen bewahrt und deren fieses Objektivgrinsen immer breiter wird, mit jedem Mal, dass ich in den Spiegel blicke; ich könnte mich gleich hinsetzen auf die Stufe vor diesem Schaufenster und in langen stillen Jahren verwelken und vergehen, zwischen Spiegel und Kamera, es würde aussehen wie das faulende Obst in der Plastikflaschenwerbung; großartige Werbung übrigens; stattdessen reiße ich mich los von dem Spiegel und von dem Zeitloch; es ist ein Antiquitätenladen, natürlich, immer noch, natürlich, die sollten ihre Waren verkaufen und nicht harmlose Passanten damit erschrecken, mir ist, als wäre ich unversehens in eine Steven-King-Verfilmung geraten. Nur nichts anmerken lassen; auch das wie damals, übrigens, ich kaufe noch einem Zeitungsmann den Falter ab, quasi als Belohnung, weil er ihn mir direkt angeboten hat ohne mich mit Krone und Kurier zu belästigen; der Garten des Lokals, das an allem Schuld ist, ist bis zum letzten Platz gefüllt, ein Glück wahrscheinlich, mit 1 Bier wäre das heute sicher nicht erledigt gewesen;

ich gehe weiter und denke: ich will raus aus dieser Stadt, irgendwohin, wo nur fremde Geschichten in der Luft herumhängen und keine einzige von mir;

nur ein paar Straßen weiter heimwärts dann dieser Typ, ein richtiger Sandler, der an einem der Alleebäume lehnt und in ein Schaufenster starrt, eine Zigarette in der Hand, mal ein paar Schritte näher ran geht, sich dann wieder zurück an den Baum lehnt; was zum Teufel macht der da denke ich und ob ich die Straßenseite wechseln soll, aber wirklich zum Fürchten sieht er ja nicht aus;

dann geht alles sehr schnell, von der anderen Straßenseite ein weißhemdiger Kellner mit einem Bier in der Hand; “He Alter sorry, bei uns kannsd wirklich ned fernsehen, aber des Bier schenkt da da Chef”; in dem Moment habe ich die Stelle erreicht und sehe im Schaufenster einen Fernseher, der irgendwas olypmpiahaftes zeigt; der Sandler ist wirklich einer; ziemlich dreckig und murmelt jetzt etwas von “eh klar und trotzdem, aber danke”;

ein paar Schritte später noch ein Blick zurück, der Kellner verschwunden, der Sandler hat sich mit dem Rücken zum Baum hingesetzt, starrt immer noch auf die tonlose Sportveranstaltung und nippt am Bier;

ich sehr gerührt und denke: genau das ist Wien! Während mein zynisches ich mich für ebendiesen Gedanken psychisch kräftig in den Arsch tritt.

Auch der Spiegel im Nachhinein betrachtet mehr ein abgründiger Schmäh als wirklich verletzend; vielleicht gibt es ja noch anderswo einen Garten, in dem man sich ein Getränk bringen lassen und den Falter lesen könnte? Aber es gibt keinen, alles entweder wegen Urlaub geschlossen oder Eckbeisl voller lebender Leichen;

macht ja auch nichts. Ich trage ächzend mein Kreuzweh in den vierten Stock, werfe noch einen Blick aus dem Gangfenster, das über die Stadt schaut, und denke, dass ich sie so am meisten liebe, diese Stadt, ein Lichtermeer von weit oben, keine Details bitte;

und während der Computer wieder hochfährt und ich die Fenster öffne und den Ventilator umstelle, um die Temperatur in meiner Dachkammer in absehbarer Zeit auf “schlafbar” zu drücken, fällt mir D.H. ein, der mir damals, als ich sehr frisch hier war und und sehr verliebt in Die Stadt, den guten Rat gegeben hat: Ja sie ist schön, hat er gesagt, wunderbare Stadt, genieß es, aber bleib hier nicht hängen, hörst du? Wien, nach einer Weile, ist wie ein Sofa, aus dem man nie wieder aufstehen will; man kann das Leben genießen, aber man kriegt nie etwas Richtiges zustande hier, vergiss das nicht.

Und ich hab’s nicht vergessen, aber hängen geblieben bin ich trotzdem, habe es genossen, und Recht hat er auch gehabt: Etwas Richtiges habe ich nie zustande gebracht; ob das nun an der Stadt liegt oder an mir weiß ich aber wirklich nicht, würde auch keinen Unterschied machen, irgendwie.

Und während ich das schreibe wieder diese Grille vor dem Fenster; es ist immer nur eine, seit drei Jahren schon, ein paar habe ich in der Wohnung gehabt, aber zu hören ist immer nur eine einzige; ich weiß nicht, ob Grillen überwintern und im nächsten Jahr weitersingen, ob es unter vielen hier nur eine gibt, die “singen” kann; oder vielleicht gibt es eine Verordnung, dass immer nur eine singen darf in einem Hörbereich, so wie bei den Straßenmusikern auf der Kärntnerstraße;

ach Straßenmusiker. Hör mir bloss damit auf. Eine Gruppe, die mit Verstärkern und Halb-Playback auftritt, sind keine “Straßenmusiker”, verdammtnochmal. Und auch der Tante mit der klassischen Gitarre, die da gespielt hat, sollte man auf die Stirn tätowieren, dass eine Straßenmusikerin 1.) niemals mit Verstärker, 2.) und wenn doch, dann nicht mit einem dermaßen mies eingestellten, und 3.) schon gar nicht mit einer to-tal verstimmten Gitarre auftritt. Oder?

Man kann’s auch lassen; immerhin kannte der Applaus keine Grenzen, als einer der Zuhörer Mozart erkannt hatte. Was soll’s, sie ist ganz bestimmt nicht die einzige, die heutzutage mit Schrott Geld verdient.

Und so bin ich hin- und hergerissen;

Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne will ich nicht mehr sehen

Thomas Brasch

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