10. April 2012

Hier und dort und irgendwo

Manchmal ist einfach jeder Anlass recht, um den Computer zu verlassen, der mich mittlerweile sehr viel besser kennt als meine eigene Mutter es je konnte, aber das hat natürlich seine Gründe. Aber ich frage nicht nach Anlässen noch nach Gründen, wenn der Wind weht und die Frühlingssonne scheint, ich nehme stattdessen einfach die Kamera und geh da raus. Der Moment, in dem der Wind mein Gesicht trifft und die Haare nach hinten weht, macht mich zwanzig Jahre jünger, innerlich. Dass meine Haare schon vor 20 Jahren nicht gut ausgeschaut haben, wenn der Wind sie mir aus dem Gesicht geweht hat, macht mir nicht das geringste aus. Ich hab halt keine eleganten Ausdemgesichtwehhaare, soll ich deshalb auf das zweitschönste Gefühl der Welt verzichten? Niemals.

Es ist dieses wunderbare Allesvollerlebengefühl, das mich den ganzen Weg zu Fuß gehen lässt. Jenseits des Gürtels ist sowieso alles anders. Die Leute reden anders, auch wenn sie deutsch reden, die Autoabgase riechen anders, die Wölkchen wolken anders. Aber wahrscheinlich liegt das alles an mir.

Tatsächlich macht mich die Vorstadt so anders, dass ich mich wirklich in ein Gwandgschäft wage. “Kann ich helfen?” fragt der unverschämt junge Gwandverkäufer mitten in mein schwedisches Hörbuch hinein. “Ich schau nur,” aber wenn er dann schon da ist, “eigentlich such ich Sweatshirts. Aber ohne Kapuze. Und ohne Reißverschluss.” Ich bin schon lange genug herumgelaufen, um zu verstehen, dass das zurzeit ein sinnloses Unterfangen ist. “Ja, die such ich auch. Schon seit Jahren.” grinst der Hilfsbereite dunkeläugig, “also hier gibts keine.” Er klingt charmant und hat einen ganz leichten Akzent mindestens zweiter Generation, der nach Meer und nach vertrauter Fremde klingt.

Artig bedankt und wieder hinaus in den Wind und in die Sonne, die sich einen glaubwürdigen Scheinkampf liefern, der mich noch ein bisschen breiter grinsen lässt. Wo doch überall schon die Blüten blühen und die Knospen sprießen, was bildet er sich eigentlich ein, der Herr Winter? Im Straßencafe sitzen schon die Verliebten, aus den rosa-grünen Bäumen tönt Gezwitscher. Das Künstlerpärchen, das sofort und ohne jeden Zweifel das Bild des Tages wäre, fotografiere ich nicht. Halte die Kamera stattdessen nach oben, auf die Blüten. Es ist, als könnte das Abbilden meiner Wirklichkeit ihre Wahrhaftigkeit zerstören. Das will ich nicht auf meine Kappe nehmen, wirklich nicht.

Ein mit Jean und Kapuzenshirt beinah originaler 80er-Jahre Dylan rennt mich fast um, als ich mit der Linse in den Himmel ziele. “Was fotografierst du?” fragt er, als fest steht, dass keiner von uns umfallen wird. Ich weise in großer Geste auf die Straße und den Himmel und alles andere und frage, ob ich sein Bild auch mitnehmen darf. “Nein, heute nicht.” Er wiederholt halb spöttisch die Geste meiner Weltumarmung, tritt einen Schritt näher und murmelt vertraulich “Ich bin gar nicht da”, bevor er im Getümmel verschwindet. Schade, irgendwie. Ich hätte gern gewusst, ob er zu Hause eine Gitarre hat.

Auf dem Heimweg den neuen Bahnhof mitgenommen, der heute noch aussieht, als hätte ihn ein schlecht austariertes Raumschiff verloren, der aber vermutlich in ein paar Jahren zu unserer Stadtwirklichkeit gehören wird, als wäre er immer da gewesen.

Im Grunde wünscht’ ich, es könnte immer Frühling sein. Und nur ab und zu und für ein paar Tage Sommer werden. Aber man wünscht sich ja so vieles, wenn die Tage langsam länger werden, und dann irgendwann hält man es doch jedesmal wieder aus, wenn sie kürzer werden.

Immerhin hab ich weder Schweißfüß noch ein bam am SCHÄDL, und das ist ja wohl irgendwie auch was wert. Obwohl mir nicht ganz klar ist, was.

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