Heimwärts im Saharastaubnebel

15. März 2022

Um zwei Uhr früh aufgewacht, jetzt ist es doch recht kühl im Zimmer, und die Klimaanlage bläst noch immer nicht. Ich tappse zur Rezeption und schaffe es, dem halbschlafenden Wesen hinterm Tresen das Problem zu erklären. „La clima no va“ mag zwar kein perfektes italienisch sein, lässt den Nachtportier aber – nachdem er meine Zimmernummer abgefragt hat – einen Schrank aufschließen, in dem ein kleiner Bildschirm steckt, auf dem er konzentriert herumtippt. „Klima va!“ erklärt er dann, über-artikuliert und sichtlich stolz. Ich bin ziemlich verblüfft über so ein Wunderwerk der Technik in einem Haus, dessen Ausstattung ansonsten aus den 60ern oder bestenfalls sehr frühen 70ern stammt, aber er hat recht: Die Klimaanlage in meinem Zimmer bläst wieder warme Luft. Dem Rest der Nachtruhe steht also nichts im Weg.

Dem frühen Schlafengehen entsprechend schon vor acht Uhr hellwach. So kenne ich mich gar nicht, aber es soll recht sein. Der erste Blick vom Balkon zeigt Nebel über dem Meer. Ich trinke unten auf der Terrasse den morgendlichen Cappuccino. Während auf der Straße der Alltagsverkehr vorbeizieht, Autos, Mopeds, Fahrräder und Fußgänger, geht im Hotel gegenüber die Alarmanlage los. Es ist ein recht dezenter Ton für einen Alarm. Das Haus sieht völlig verlassen aus. Im Nullkommanix fährt ein Polizeiwagen vor, zwei Uniformierte steigen aus, prüfen die Tür, umrunden dann das Haus und sprechen in ihr Funkgerät. Der Alarm verstummt, die beiden brausen davon. Ein gewohnter Fehlalarm wohl.

Ich mache mich fertig und packe. Die versprochene Rechnung ist natürlich nicht fertig. Heute ein Typ an der Rezeption, der verfolgt eine dritte Kommunikationsstrategie: Er ruft eine Signora an, die Englisch spricht, und reicht mir den Hörer. Die Dame am anderen Ende meint, sie braucht noch meine Tax-Number, dann kann sie die Rechnung schreiben. Was wäre, wenn ich keine hätte, frage ich, aber so weit reicht das Englisch auch nicht, oder sie hat keine Lust, die Frage zu erörtern. Ich eigentlich auch nicht mehr. Ich hinterlasse nochmals meine Daten auf einem Zettel, verabschiede mich und ziehe von dannen.

Während ich mich frage, ob ich zu Fuß gehen oder auf den Bus warten soll, fährt der Bus schon ein. Dann halt. Ich kaufe ein paar Mitbringsel ein und gehe die Hauptstrasse entlang. Die Mitbringsel sind nicht ganz so exklusiv, wie ich sie gerne gehabt hätte, aber besseres ist weit und breit nicht in Sicht. Rimini ist halt nicht Italien, denke ich, so wie der Prater nicht Wien ist. Ist das übertrieben? Irgendwie ja, aber dann auch wieder nicht. Wie das wohl ist, in einer Stadt zu leben, die mindestens das halbe Jahr zum Großteil aus leeren Hotels besteht?

Den futuristischen Kennedy-Übergang auf der Kennedy-Plaza erklimme ich trotz des hinderlichen Gepäcks. Ein weiter Meerblick belohnt mich, obwohl im Nebeldunst kaum unterscheidbar ist, wo sich Himmel und Meer treffen.

Die Boote draußen sehen aus, als würden sie schweben.

Später versuche ich zu ergoogeln, warum der Kennedy-Platz so heißt, und ob einer aus dem Clan einmal da war, aber ich scheitere an seitenweise Hotelwerbung, Wanderrouten- und Lokalbeschreibungen.

Statt des vorher imaginierten Meerspaziergangs ziehe ich mich auf einen Cappuccino ins gleiche Lokal wie gestern Abend zurück. Es ist warm genug, um draußen zu sitzen, und ich hole mir noch ein Croissant zum Kaffee. Außer mir nur ein semi-derangierter Typ mittleren Alters, der hinter einer Riesenzeitung verschwindet und ab und zu hektisches italienisch in sein Telefon spricht, Klischee in Aussehen und Gestus: Sich selbst sehr wichtig nehmender Tagesjournalist.

Unten am Spielplatz Kinderlachen, nebenan auf der Baustelle Geschäftigkeit, aber nicht zuviel Lärm. Ich lasse mir Zeit mit meinem Cappuccino und überlasse es dem Zufall, ob ich einen Bus erwische oder ob ich quer durch die Stadt zum Bahnhof gehe. Der Bus kommt punktgenau, als ich den Haltestellenbereich erreiche. Ich hab gar keine Lust, jetzt von hier wegzufahren, aber … ja.

Mit der Signora am Ticketschalter meinen Plan besprochen, den früheren Zug zu nehmen, weil mir 6 Minuten zum Umsteigen doch allzu optimistisch erscheinen. Die Alternative würde aber 70 Euro kosten, was dann doch etwas happig ist, vor allem, weil ich in die Gegenrichtung zwei Drittel der Strecke ja für zehn Euro gefahren bin? – Sie runzelt die Stirn, tippt konzentriert, es gibt noch einen anderen Zug, der in meiner App nicht aufscheint, man muss dann zwar in Bologna nochmals umsteigen, aber mit 10 Minuten Zeit, und um 15 Euro, und hat dann trotzdem 30 Minuten in Venezia Mestre, da bin ich dabei.

Der Zug ist als italienischer IC kategorisiert, und sehr bequem sitzend denke einige Kilometer lang darüber nach, wieso die ÖBB zwar eins der pünktlichsten Bahn-Unternehmen in Europa sind, aber treffsicher bei jeder neuen Zuggeneration noch unbequemere Sitze wählen. Dann denke ich anderes: Dass die Bäume, die jetzt langsam zu blühen beginnen, vor drei Tagen noch völlig blütenlos dastanden. Wie flach die Gegend ist. Und wie ich schon einmal, vor langer Zeit, in einem Zug in der Gegenrichtung mit meinem damaligen Reisepartner darüber sinniert habe, wie flach die Gegend wirklich ist. Und wie wir gemeinsam glücklich waren, als das Meer in Sicht kam (das jetzt hinter mir liegt).

Von Bologna weg wird es etwas interessanter, auch bekanntere Stationsnamen. Einmal steht der Zug ziemlich lang in einer sehr kleinen Station, und ich werde schon fast nervös wegen der Anschlusszeit, aber der längere Aufenthalt steht auch so im Fahrplan, das passt schon. Einmal steigt ein Mann zu, der sich nach und nach durch den Waggon arbeitet und (italienisch) alle Fahrgäste fragt, ob der Zug wirklich in Venezia Mestre hält, und wenn ja, wann. Er kriegt mehrfach die richtige Antwort, so viel italienisch verstehe ich durchaus, scheint aber nicht recht zufrieden damit und fragt die nächsten wieder. Als er sich meiner Reihe nähert, suche ich den Zugplan auf dem Handy heraus, und als er mich fragt, halte ich ihm das Display vor die Nase. Er nestelt eine Brille aus der Tasche, schaut genau, und scheint dann übermäßig beglückt. „Venezia Mestre!“ sagt er und tippt mit dem Finger auf die Zeile, „Grazie, grazie, grazie!“ – Schön, wenn man mit so kleinen Gesten helfen kann.

Ich hatte ein bisschen gehofft, die 30 Minuten am Rande von Venedig zum Einkaufen besserer Mitbringsel nutzen zu können, doch auf dem Bahnhof gibt es nur zwei Buffets und einen Zeitschriftenstand. Der Blick vor die Tür bringt auch keine vielversprechenden Geschäfte zutage. Ich decke mich an den Buffets mit Jause ein und warte dann auf den Zug. Am Aufgang zum Bahnsteig steht eine Bahnbedienstete und fragt alle nach ihrer Destination. Geht es nach Österreich, wird Fieber gemessen. Was wohl passieren würde, wenn man Fieber hätte? Ich habe keins und frage nicht. Dass hier, in der allzunahen Fremde, dann ein ganz gewöhnlicher Railjet einfährt, erweckt ein eigenartiges Gefühl zwischen surreal und wohlvertraut.

Das Stück Norditalien, das der Zug noch bei Tageslicht fährt, wirkt sehr trist. Verlassene Bauernhäuser in den Feldern, Fabrikshallen, viele davon ebenfalls verlassen und am Verfallen, auch die Gebäude rund um die Bahnhöfe in den Städten bröckeln.

Der zunehmend graugelbe Himmel tut sein übrigens zur Vertiefung der Tristessa. Ich arbeite ein wenig, aber das Telefon läutet oft. Die Zeiten, als man darüber nachdenken musste, ob ein eingehender Anruf vielleicht ein Vermögen kosten wird, vermisse ich nicht.

Überraschend dann immer wieder der übergangslose Wechsel zu netten Wohnhäusern, manchmal sogar Villenvierteln. Über der Stadt wie über dem Land wirkt der Himmel gelblich, ich frage mich, ob da schon wieder Saharasand am Fliegen ist. Und die ausgetrockneten Flüsse: Ob das wohl normal ist hier um diese Jahreszeit?

Der Schaffner geht durch den Zug und erzählt allen Fahrgästen einzeln, dass wir in Tarvisio den Zug wechseln müssen. Blöd, wo ich es mir gerade gemütlich gemacht habe. Der Umstieg in Tarvisio erlaubt aber immerhin noch ein Zigaretterl vor der langen Abendfahrt.

Im neuen Zug ist es schon dunkel, und ich arbeite ein bisschen, von Villach bis zum Semmering, bevor ich mir einen Manöverschluck gönne, obwohl das Manöver doch noch gar nicht zu Ende gereist ist.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Voriger Beitrag

Es bleibt sonnig

Nächster Beitrag

Hilflosigkeit

Gehe zuNach oben