Geträumtes und halb Geträumtes

27. Januar 2008

Als ich das zweite Mal in jenem Winter auf dem Rücken lag, hilflos unter gleichgültigem Himmel, eine Nässe im Gesicht, von der ich nicht wusste, ob sie Regen war oder Tränen oder einfach nur da, als ich das zweite Mal in jenem Winter auf dem Rücken lag und auf die Wolken schaute, die über mir vorbeischwammen, da dachte ich wieder: So ist es also, wenn man stirbt.

Ich hatte keine Schmerzen, und das war gar nicht gut so. Aber wie beim ersten Mal war ich ganz ruhig. Ich lag da und dachte, dass es doch seltsam war, in dieser Situation so ruhig zu sein und keine Schmerzen zu haben, und ich wartete darauf, dass jemand, der den Lärm gehört hatte, ein Fenster auf und dann die richtigen Anrufe machen würde; ich zählte meine Atemzüge, jeden einzelnen erstaunlich ruhigen Atemzug, langsam, bis 25, aber es blieb ganz still.

Eben war es noch laut gewesen. Splitterndes Glas, mein schreiartiges Luftholen. Und dann der Donner des Aufpralls, lauter als alles, was ich jemals gehört hatte.

Vorsichtshalber dachte ich nach. Es wäre nicht gut gewesen, eine falsche Behauptung im Kopf aufzustellen, jetzt, wo ich wohl gleich sterben würde. Ich dachte an laute Dinge. An die lautesten Dinge, die ich in meinem Leben gehört hatte. War das eben lauter als der Wind im Freifall? Lauter als ZZ-Top? Lauter als der Eurofighter im langsamen Vorbeiflug?  Lauter als das Schlagzeug im Studio, damals als die 50.000-Watt-Anlage in dem 15m2 Raum irrtümlich auf Anschlag aufgedreht gewesen war? Ja, die Erinnerung blieb lauter als alles andere. Ich hatte mich nicht belogen,

das nicht. Aber ich hatte über dem Nachdenken das Zählen vergessen. 25 Atemzüge zu etwa 4 Sekunden, das macht knapp eineinhalb Minuten. Wie lange hatte ich seither nachgedacht? Genau so lange, oder doch nur ein paar Sekunden? Es schien mir unendlich wichtig, die richtige Zeit seit dem Knall einschätzen zu können, und gleichzeitig wusste ich nicht, was daran wichtig sein sollte. Beim ersten Mal war es doch auch nicht wichtig gewesen. Nur die Luft und der Himmel und die Gewissheit, dass man so sterben könnte. Und dass das völlig unwichtig wäre. Für die Welt.

Ich hatte keine Lust zu sterben, damals nicht und diesmal auch nicht. Aber es gibt Dinge, die kann man sich nicht aussuchen.

5 Minuten, dachte ich. Das waren jetzt sicher schon 5 Minuten. Da kommt niemand mehr und macht ein Fenster auf. Vielleicht sollte ich rufen? Anrufen?

Beim ersten Mal, das wusste ich noch, war ich erstaunt und ein bisschen neidisch gewesen, dass dieses andere hilflose ich neben mir einen Freund wusste, den man anrufen kann, mitten in der Nacht, einen der einfach kommt und hilft, ohne weitere Fragen zu stellen. Solche Freunde habe ich nicht, hatte ich gedacht, und mich sehr einsam gefühlt beim Blick auf die Wolken und mir dabei sehr leid getan. Erst viel später hatte ich verstanden, dass ich solche Freunde gar nicht aushalten würde. Sowas versteht man dann auch nur nüchtern.

Jetzt war ich nüchtern, aber anrufen konnte ich trotzdem nicht. Das Handy lag am Tisch, 4 Stockwerke über mir. Selbst wenn ich es bei mir gehabt hätte, meine Hand wollte sich nicht bewegen. Selbst wenn ich es bei mir und eine funktionstüchtige Hand gehabt hätte, wen hätte ich anrufen sollen?

Also blieb nur die Stimme. Hilfe! versuchte ich, und hörte nichts als den Wind. Mein Atem jetzt schneller, die Ruhe hatte mich verlassen. Ich konnte das gesplitterte Fenster sehen über mir, das eine kaputte unter den vielen intakten, und ich sah den Mond, der gerade um die Ecke kam. Ich versuchte, aufzustehen, die Gedanken wie ein Muskelkrampf in meinem Kopf, aber sonst bewegte sich nichts an mir. Ich dachte Bewegungen, hätte gern mit zwei Fingern die Nasenwurzel gerieben, um besser denken zu können, hätte mich gern im Nacken gekratzt, wie ich es tue, um im Gespräch Zeit zu gewinnen, aber ich konnte nicht. Konnte nicht einmal genau sagen, ob ich noch Finger hatte. Kein gutes Zeichen, dachte ich. Damals, bei diesem ersten Mal, da war zumindest alles noch da. Da war es nur zu mühsam, irgendwas bewegen zu wollen. Zu schwer. Da war aber auch nichts passiert gewesen. Keine 4 Stockwerke Freifall, zu tief für einen Basejump, zu hoch ohne Schirm.

Der Fensterflügel oben schwang im Wind hin und her, ein leises Quietschen bei jedem Hin, ein sanftes Knarren bei jedem Her. Beruhigend, beinah hypnotisierend. Wo ist das ganze Glas, dachte ich, unter mir vielleicht? Wie viele Lebensadern hat es durchtrennt? Und macht das einen Unterschied, nach diesem Fall? Qietsch – Knarr. Quietsch – Knarr. Der Atem wieder ruhiger. Ich fragte mich, warum ich atmen konnte, aber nicht schreien. Ich versuchte es nochmals. Es blieb still.

Seltsam, dachte ich. Mein Körper ist schon verschwunden, und der Rest hat auch nicht mehr viel Zeit. Warum ist dann alles so leicht und klar?

Weil du es so wolltest!  – Eine neue Anwesenheit, klar und weit. Dunkel, aber nicht feindlich.

Aber wenn ich jetzt sterbe…, sagte ich zu meinem Tod, …wenn ich jetzt sterbe, dann denken doch alle, ich hätte mich umgebracht.

Es blieb still, wurde nur kühler.

Niemand wird sehen, wie glatt der Tisch war, dachte ich, so laut ich konnte, niemand wird sich fragen, warum ich eine Rolle Tape ums Handgelenk trage, niemand wird wissen, dass ich nur mein verdammtes klapperndes Fenster zutapen wollte, niemand…

Etwas wie ein Lachen, aber vielleicht war auch das nur der Wind. Von ferne ein Martinshorn. Vielleicht hat ja doch jemand angerufen, hoffte ich einen Moment lang, dann wurde es wieder leiser. Wenn ich nicht an den Verletzungen sterbe, dachte ich, dann sterbe ich an der Kälte. Wenn ich nichts mehr habe als meine Gedanken, dann ist das wohl auch gut so.

Ein Hauch von Zustimmung aus dem Dunklen, Fremden.

Dann nichts mehr.


Licht. Licht und Geräusch. Bewusst-Sein. So nah und wahr noch der Traum, dass ich es als reines Wunder wahrnehme, wie meine Hand an meinem Oberschenkel liegt. Dass ich fühlen kann, wie meine Hand da liegt. So wunderbar anders, dass ich einen Moment lang nicht wage, mich zu bewegen, weil es vielleicht doch nicht funktionieren könnte.

Aber es funktioniert. Alles ist gut.

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