4. Mai 2020

Gestohlener Montag

Eigentlich hätte an diesem Montag ja schon wieder die Arbeit gerufen. Aber „eigentlich“ ist ja eigentlich ein völlig überflüssiges Wort, wie meine Deutschlehrerin damals in der Schule nicht müde wurde zu betonen. Auch heute noch finden sich immer wieder sprachmilitante Menschen, die jedem „eigentlich“ mit einem „und uneigentlich?“ begegnen. Ich finde aber, dass dieses Wort eigentlich eine schöne Rolle in Texten einnimmt, indem es andeutet, dass da etwas nicht ganz so ist, wie es scheint, ohne aus diesem Umstand gleich eine Staatsaffäre oder eine Diskussion machen zu wollen. Eine kleine Lupe quasi, die dazu anregt, sich den Satz ein bisschen genauer anzuschauen. Aber genug der Sprachanalyse.

Ich hatte mir nämlich vorgenommen, mir von der eigentlich eh immer wartenden Arbeit nicht mehr meine täglichen Schritte klauen zu lassen, und so startete trotz des halb verbummelten Vormittags zu Fuß in die neue Woche. Zur Abwechslung begann ich den Wanderweg nördlich des Westbahnhofs, eine üblicherweise eher fade Gegend, aber da war ich schon lange nicht mehr gegangen. Mit etwas Wind aber doch noch viel Sonne sinnierte ich, dass manche Gegenden deutlich vorstädtisch aussehen, obwohl sie doch noch relativ mittig liegen. Tankstelle wie Puffs lagen verlassen, die Graffiti hatten sich seit dem Vorjahr nicht sonderlich verändert. Zudem ging es bergauf, mehr als ich erinnerte.

Es ist mir in den letzten 30 Jahren nie aufgefallen, und vielleicht wäre es mir überhaupt nie aufgefallen, hätte nicht hinter mir ein Moped so plötzlich geknattert, dass ich mich erschrocken umdrehte: Von der Felberstraße sieht man über das Westbahngelände tatsächlich die Gloriette.

Ein kaiserliches Winken hinter dem zweckmäßigen Schienengewirr. Um diesen Umstand halbwegs überzeugend fotografisch festzuhalten, musste ich auf die Fussgängerbrücke, die ich auch noch nie benutzt hatte, und beschloss, sie gleich pionierhaft zum ersten Mal zu überqueren. Mittig saß ein junger Mann mit ÖBB-Jacke auf dem Boden, jausnete ein Sandwich und hörte Reggae so laut, dass ich den Text aus den Kopfhörern verstehen konnte. Sofort auch Lust, Musik zu hören, aber dazu hätte ich im Rucksack die Kopfhörer  suchen müssen, das hätte meine Schritte gebremst, und die wollten sich gerade nicht bremsen lassen.

Drüben wartete schon wieder ein mir recht fremder Stadtteil, wunderbar. Vor lauter Faszination über den frühindustriellen Ziegelschornstein, der zumindest auf den ersten Blick zu nichts anderem zu gehören schien, verabsäumte ich es, die finstere und dennoch graffiti-tapezierte Unterführung zu fotografieren, aber lange hätte es mich da unten dank des Geruchs ohnehin nicht gehalten.

Wieder aufgetaucht, fand ich mich zwischen Wohnhäusern und war ganz zufrieden, die Kopfhörer nicht aufgesetzt zu haben. Hier übte jemand Schlagzeug, dort sickerte ein spanischer Fernseh- oder Radiosender aus dem Fenster, irgendwo sang ein Kind einen Abzählreim. Auf einem Mini-Balkönchen schnurrte eine Katze so laut, dass die Blumen daneben erzitterten. So schien es zumindest, auch wenn das Zittern in Wirklichkeit wohl eher am auffrischenden Wind lag. Erstaunlich, eine so fremde Gegend zu finden, wo ich doch die Straßen und Gassen ein paar hundert Meter weiter genauso gut kenne wie mein eigenes Grätzel. Ein Haus mit wien-untypischem 70er-Jahre Adria-Charme trug ein Ding auf dem dach, dessen Sinn sich mir trotz viel Phantasie nicht erschließen wollte.

Statt wie geplant beim Bahnhof den Gürtel zu queren, blieb ich auf der Vorstadtseite. Die fühlte sich irgendwie heimelig an. Flugblätter wie aus den 80ern, Graffiti wie aus den 90ern und ein beginnender Krimi an der Wand.

Auf diese Art kam ich von der Maschek-Seite an die Stadtbahnbögen und fand ein weiteres bislang ungesehenes Kunstwerk.

Dann nur noch über ein paar Straßen drüber, und ich war eh schon im fast zu Hause. Zur Nicht-Feier des Tages  im Vorbeigehen Kasnudeln vom Perchtenstüberl mitgenommen, die zu Hause gar köstlich schmeckten. Ein paar Kleinigkeiten erledigt, dann aber beschlossen, erst einmal den realen wie den digitalen Schreibtisch so aufzuräumen, dass ich morgen so richtig effektiv sein kann.

Derweil die Nachbarin von gegenüber am Fenster telefonieren gehört, wie blöd das doch sei mit dem potenziellen Regen gestern und heute und morgen, wo sie doch eigentlich dieses und jenes und noch was vorgehabt hätte. Die gleiche Nachbarin, die vor ein paar Tagen mit großer Ernsthaftigkeit aus dem Fenster telefoniert hatte, wie schlimm das sei, sowohl für die Umwelt als auch für das Gemüt, dass es schon so lange nicht mehr geregnet hat. Manchen Leuten kann man es einfach nicht recht machen.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Previous Story

Schon wieder Sonntag

Next Story

Schleichende Arbeitsverweigerung