12. Mai 2018

Fremde Welten (Journal #68)

Nachmittags führte mich ein beruflicher Event ins mir ansonsten eher unbekannte Ottakring. Diese Geschichte wird demnächst anderswo zu lesen sein, aber einen Besuch beim Klaghofer kann ich wirklich allen Fleischliebhabern nur empfehlen, auch dann, wenn dort gerade keine Grillparty ist.

Mit Fotos und Informationen im Kasten und allerlei Köstlichkeiten im Bauch beschloss ich, doch noch etwas für meine Fitness zu tun und den Heimweg zu Fuss anzutreten. Der Abend war lau und das Licht pastellig, es war einfach zu schön für Straßenbahnen mit getönten Scheiben.

Ohne Onkel Google nach dem Weg zu fragen, ging ich nach Gefühl in Richtung Innenstadt und fand erst einmal die Gablenzgasse. Die war zwar sehr breit und für einen Samstag unangenehm dicht befahren, erweiterte aber meine Landkarte Wiener Sportvereine um einen, von dem ich noch nie etwas gehört hatte.

Eigentlich hätte ich, also gefühlsmäßig, ein Stückerl nach rechts gehört, aber da rechts keine Straße abging, ging ich halt nach links. Dort wartete die Herbststraße als klassische Vorstadtgasse, schmäler und ruhig, also warum nicht?

Eine wenig bekleidete Dame wartete über dem Eingang der Mode- und Bekleidungsschule wohl auf steile Klamotten, aber das tat sie am Samstag wahrscheinlich vergeblich. Die Kuh am Parkplatz dagegen war bereits einwandfrei gestyled.

Von da an wurde die Herbststraße weniger bunt und sehr gerade. Sonnenuntergangslicht, leichter Wind und der Duft nach Gegrilltem weckten dieses unwiderstehlich glückliche Urlaubsfeeling, obwohl sich links und rechts von mir die Gemeindebauten grau in grau  aneinander reihten – und sonst so ziemlich nichts. Ich war dennoch  irgendwie zufrieden. Aus einem Innenhof trug man Lautsprecher und Instrumente, während an der Ecke ein hagerer Typ mit langen Haaren seine Djembe streichelte, als wäre das Konzert einfach nicht lang genug gewesen. Vor dem nächsten Gemeindebau ein Denkmal, das ich gern fotografiert hätte, aber das hätte wohl zu Kommunikation mit der wie gemalt hin drapierten Gruppe Jugend geführt, die dort mit Bierdosen lagerte, und kommuniziert hatte ich für diesen Tag wahrlich schon genug. Auf der anderen Straßenseite hatte sich eine Schulklasse mit van Gogh beschäftigt und dabei, möglicherweise irrtümlich, Warhol-Anklänge geschaffen.

An der nächsten Gemeindebau-Kellerstiege saß, mit baumelnden Beinen, ein Mädchen, vielleicht 16, vielleicht 18, ein Bier rechts von sich, eine Flasche Wasser links von sich, ein Buch in der Hand. Unsere Blicke trafen sich, und ich war schlagartig sicher, dass sie dort auf jemand wartete, von dem sie schon wusste, dass er (oder sie?) nicht kommen würde. Ich hätte mich ja dazugesetzt, um die Geschichte zu hören, aber die Füße waren schon wieder schneller.

Der Abend, die fremde Gegend und die heute tatsächlich wieder zärtliche Gleichgültigkeit der Welt erlauben es, auch Dinge wieder neu wahrzunehmen, an denen man (ich) sonst eher achtlos vorübergeht.

Etliche Schritte weiter werden die Häuser anders. Männer, Frauen und Engerln bewachen und stützen die mehr oder weniger abgeblätterten Fassaden.

Die Gegend ist übrigens auch voller ausgesprochen trauriger Pinguine.

Während ich darüber nachdenke, dass es hier ja nur bergab geht, und ich daher keine Stockwerke auf meinem Schrittezähler verzeichnen werde können, kommen aus einem Haus zwei kopftuchtragende Mädels und diskutieren darüber, ob der Amir aus der Klasse über ihnen jetzt auf die eine oder doch eher auf die andere steht. Wir gehen in die gleiche Richtung, sie ein paar Schritte hinter mir, daher kriege ich eine ausführliche Liste aller Anzeichen, von heruntergefallenen und wieder aufgehobenen Bleistiften bis zum Pfiff von der Ecke, der, wie sich die beiden einig sind, zwar ein bisschen unanständig aber doch sehr eindeutig gewesen ist. Als ich stehen bleibe, um ein architektonisches Detail zu fotografieren, das mir irgendwie nicht wirklich in die Gegend passt, überholen sie mich erst, kommen dann aber ein paar Schritte zurück und schauen, was ich denn da fotografiere. „Siehst du das?“ sagt die eine, „ich wohne hier schon immer, aber das habe ich noch nie gesehen!“

Bitte, gern geschehen. Der Blick geht halt leichter nach oben, wenn man niemanden zum Plaudern hat, aber ob nun das eine oder andere angenehmer ist, darüber ließe sich streiten.

Weiter bergab wird es wieder lauter, die Lokale, die oben gefehlt haben, häufen sich hier, als wären sie den Berg hinunter gerutscht. Aus allen Ecken tönt Jugopop, aus den Fenstern quillt kalter Zigarettenrauch, aber nicht unangenehm, eher wie ein Gruß aus der Jugend. Am Gürtel schließlich ein erfrischender subversiver Ton.

Am Mausi-Tempel stauen sich Samstagsausflügler, und plötzlich und völlig unerwartet habe ich Lust, ins Kino zu gehen. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal im Kino war, aber man kann ja einmal einen Blick aufs Programm werfen? Drinnen lenkt mich die laute, bunte Spielhalle ab, sodass ich das Kino erst einmal gar nicht sehe. Natürlich sind die Bildschirme mehr und größer und schärfer geworden, dennoch erinnert mich das gut besuchte Eck an Flipper- und Tischfussball-Hallen meiner Jugend. Ich fahre drei Stockwerke nach oben, an Kulinarik aus aller Welt vorbei. Beim Japaner sitzen die Liebespaare, beim Vietnamesen und beim Burger-King die Familien, die Bar dagegen bleibt leer. Den Schildern nach finde ich schließlich das Kino wieder ganz unten. Von keinem der Filme auf der Tafel habe ich bislang irgendwas gehört, und irgendwie klingen die Titel nicht sehenswert, auch wenn der Popcornduft verlockend bleibt.

Ich gehe wieder. Beim Queren des Gürtels meint mein Knie, dass es jetzt vielleicht langsam doch genug wäre mit der Latscherei, doch weder das Gemüt noch der Rest des Körpers wollen zustimmen. Also geradeaus die Burggasse runter, dann rechts ab in die Neubau, und dann bin ich ja eigentlich eh schon daheim.

In der Burggasse noch ein deutlich sympathischeres Kino: Das Admiral. Hier hängen neben den Plakaten kurze Beschreibungen der Filme, und einen davon würde ich mir tatsächlich gern anschauen, aber – was mache ich mit den fünf Viertelstunden bis dahin? Dass ein Film tatsächlich zu einer festgelegten Zeit beginnt, erscheint mir einen Augenblick lang völlig absurd, und das macht mir plötzlich und unmittelbar bewusst, wie sehr die Vergangenheit vergangen ist. Auch die Idee, in irgendeinem Schanigarten noch irgendwas zu trinken, ist gar nicht mehr verlockend. Dabei hatte ich es mir oben im 16. doch eigentlich fest vorgenommen: Irgendwo einkehren und zuschauen, wie die Leute vorbeispazieren, damit nicht nur ich immer irgendwo vorbeispaziere. Aber ich spaziere lieber weiter. An der Mariahilferstraße noch ein Veganista-Eis, Banane und schwarzes Kokoswasser, ersteres unendlich köstlich, zweiteres kann nicht mit den begeisterten Beschreibungen mithalten, die ich darüber gehört habe.

In der Kaunitzgasse finde ich ein Sonnenuntergangswölkchen, und während ich Eis, Fotoposition und Handy ausbalanciere, glitscht mir das Gerät aus der Hand und holt sich am Asphalt einen ordentlichen Sprung am Display. Noch Stunden später wundere ich mich darüber, dass mich das kaum aufregt. Und dabei war das Wolkerl gar nicht so toll.

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