Falsch verdächtigt

18. Februar 2012

Vom Berg und an der Autobahn entlang mit den Fahrrädern, seltsam bullige BMX-Dinger sind das. Jemand steigt zu mir auf und ich brettere den Abhang hinunter, bremsen oder nicht bremsen? Als ich mich entschieden habe, ist es zu spät. Also nur noch lenken, es rauscht sich gut, dann Schrecksekunde, aber auch der Sand bringt mich nicht aus dem Gleichgewicht, und wir erreichen den Eingang zu der kleinen Universitätsstadt in den Bergen. Meine Passagierin steigt ab und bedankt sich überschwenglich. Der Sufi bremst sich neben mir ein und grinst ein zufriedenes Geschwindigkeitsrauschgrinsen.

Es ist gar keine Stadt, ein winziges Dorf ist es und mitten drin ein riesiger Universitätskomplex. Berge und Dorfarchitektur vertraut als wäre es bei uns, aber es ist doch irgendwie im Süden. Dennoch wird hier Deutsch gesprochen. Der Herr Sufi ignoriert wie üblich alle Schilder und stürmt die Treppe hinauf, an der “Ausgang – kein Zutritt!” steht. Eine Menschenmenge kommt uns entgegen. Ich habe Mühe, mein Fahrrad über die Zutrittsbarriere zu stemmen, während er oben schon mit dem Verantwortlichen diskutiert. Schwarz, schwarzer Bart, schwarze Kleidung. Der Mann sieht mich böse an und sagt: “Für Sie habe ich garantiert keinen Job, wenn Sie schon die einfachsten Regeln missachten.” – “Wieso Job?” frage ich und will erklären, dass wir von hier berichten sollen, der Sufi und ich, ein schönes Stimmungsfeature über das Studieren in den Bergen. Der Sufi aber ignoriert ihn und zieht mich an der Hand in das Gebäude, mein Fahrrad bleibt stehen. Durch Keller und Abstellräume kommen wir ins Hauptgebäude des Komplexes, wieder lange Treppen, ganz oben ein Restaurant aus Glas. Mit bleibendem Staunen bewundere ich die Landschaft, während wir Kaffee trinken. Von weither grollt sich ein Gewitter heran. Wie die Wolken wechseln mit dem blauen Himmel, vor und hinter den schroff-grünen Berghängen.

“Wir sollten zum Hotel fahren”, sagt der Sufi, “bevor die Ausrüstung nass wird.” Er trinkt aus und will das Auto holen. “Mein Fahrrad”, sage ich. Ich werde es holen, dann treffen wir uns wieder. In den gläsernen Gängen mit vielfältigen Lichtinstallationen verlaufe ich mich ein ums andere Mal, lande schließlich in einer kombinierten Bibliothek und Buchhandlung, auch hier viel Glas auf 3 offenen Ebenen, dazu Holzbänke, und eigentlich möchte man sich hinsetzen und verlieren in der Büchervielfalt. Ich denke, man könnte ja auch das Gewitter hier abwarten, da ruft mich eine Frau. Sie hat mich erkannt, sie hat uns hierher eingeladen. Sie kann mich zu meinem Fahrrad bringen.

Vor dem Ausgang der Bibliothek ein gemütlicher Gastgarten, Schirme, alte Bäume, Studenten sitzen hier und lernen, lesen, tratschen. Plötzlich Aufruhr und Schreie, irgendwo um die verwinkelte Ecke. Ein seltsames Geräusch, riesige Tropfen müssen das sein auf den Platanenblättern, aber seltsam, immer 3: Pfltsch-pfltsch-pfltsch, kurze Pause, dann wieder drei. Das sind keine Tropfen, begreife ich ich dann, es sind Schüsse, und schon pfeift eine Kugel heran und bringt die Glaswand zum sirren, laut und intensiv. Die Schussgeräusche dagegen bleiben klein und blass, während Hektik ausbricht. Um die Ecke fällt einer mit einem großen roten Fleck auf der Brust, auch im Gastgarten die ersten Treffer. Ich laufe in die Bibliothek zurück, hoffe, dass die Scheiben halten. Meine Führerin spricht hektisch in ein Funkgerät, dann sieht sie mich. “Lauf!” sagt sie und zeigt in eine Richtung. Ich laufe, die Treppe hoch, andere um mich herum laufen auch, zerstäuben dann in verschiedene Gänge. Dort, wo ich hin soll, wieder ein gläserner Gang, man sieht genau in die Gasse, in der es angefangen haben. Da unten liegen Menschen, erschossen, angeschossen. Immer in Dreier-Gruppen, so wie die Schüsse fielen. Fotografieren, denke ich, das muss man fotografieren, damit niemand sagen kann, es wäre anders gewesen. Sie werden es ganz anders erzählen, wenn niemand das Gegenteil beweisen kann. Jemand muss das festhalten, damit es niemand anders erzählen kann. Meine Kamera ist im Auto. Hat denn niemand eine Kamera? Niemand hat eine Kamera, und es ist auch niemand interessiert, denn das Geräusch der Schüsse hat sich verändert, hallt jetzt bassig durch den Bibliothekssaal. Folgt uns in den Gang. Ich bin nicht schnell genug. Eine Treppe führt nach unten, ich lasse mich fast hinunter fallen, eine weiße Tür, angelehnt, dahinter Turnsaalgarderoben.

Hier ist nichts mehr mit Glas und Glamour, Kellerfitnessstudioumgebung, ich ducke mich zwischen zwei Garderobenkästen und habe doch kaum Hoffnung, sie werden mich gesehen haben, sie werden mich atmen hören. Schritte auf der Treppe. Ein blondes Gesicht an der Tür vorbei, “Alle! wir müssen sie alle kriegen!” – Das wars dann, denke ich. “Dort!” eine andere Stimme, die Schritte entfernen sich, dann wieder Schüsse. Ich warte, lange. Unsicher. Was jetzt?

Mein Telefon läutet. Der Sufi. “Das verdammte Auto springt nicht an.” Ist auch besser so, sage ich. Hier wird geschossen. Bleib wo du bist, ich bin gleich da.

Jetzt ist nichts mehr verwirrend an den Gebäuden, ich finde die Ankunftstreppe ohne Probleme. Der Dunkle sitzt oben in einem Campingstuhl und liest in der Zeitung, als wäre nichts geschehen. “Da unten wird geschossen” sage ich zu ihm. “Ich weiß. Hab’s ohnehin satt.” Er schaut kaum von seiner Lektüre auf. Mein Fahrrad ist weg. “Nehmen Sie meins.” Er hat offenbar vergessen, wie zornig er uns war.

Sirenen und Hubschrauberlärm begleiten mich aus dem Dorf. Auf einer verlassenen Tankstelle zapfe ich einen Kanister voll Diesel, vielleicht ist ja nur der Tank leer, denke ich. Auf dem Parkplatz sitzt der Sufi und brät ein Steak am Campingkocher. Wir sollten verschwinden, sage ich. Nach dem Essen, sagt der Sufi. Am Parkplatz vorbei gluckert ein kleines Bächlein, der Sufi hat seine Hängematte in den Bäumen aufgehängt. Ein Polizeiwagen biegt auf den Parkplatz ein. Der zerzauste Landpolizist schaut zögerlich drein und fragt, ob wir etwas gesehen haben. “Ja,” fange ich an “Nein!”, unterbricht mich der Sufi und bietet dem Polizisten ein Stück vom Steak an. Der schüttelt bekümmert den Kopf und geht.

Ich schalte das Radio ein. In der Bibliothek hat es angefangen, erzählt der Sprecher, dunkle Männer seien es gewesen. “Es war ganz anders” sage ich. Der Sufi nickt. “Auf der Straße hat es angefangen. Und der Mann war blond”, sage ich. “Hmhm”. sagt der Sufi nur.

Wir fahren durch das Dorf. “Hier hat es angefangen, in dieser Gasse”, sage ich. Die Gasse, in der die Erschossenen gelegen sind, ist sauber und aufgeräumt. Die Gastgärten sind gut besucht. “Lass uns einen Kaffee trinken”, beschließt der Sufi. Ich will das nicht, nicht da, wo vor ein paar Stunden noch Tote und Verletzte gelegen sind, aber er ist schon ausgestiegen. Alles sieht aus, als wäre nie etwas passiert. Nur drüben am Eingang zur UNI stehen ein paar Einsatzfahrzeuge.

Zwei Polizisten führen den Dunklen vorbei, in Handschellen. “Er war das nicht!” rufe ich. “Ich weiß” sagt der Polizist und knufft den Dunkeln in die Seite. Der zwinkert mir zu. “Er hat nur gelesen,” sage ich, “Er hat mir sein Fahrrad gegeben!” – Aber mein Satz ertrinkt in den Kirchenglocken, die plötzlich läuten, sehr laut, und nicht mehr aufhören wollen. Die Schallwellen zeichnen Kringel in den Kaffee.

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