Die Kerze brennt

8. April 2001

Ja, eine letzte Kerze habe ich noch gefunden in der spärlich gefüllten Vorratskammer meines für gewöhnlich einsam herumstehenden Hauses. Nicht nur die Vorratskammer hier ist leer, auch das Haus selbst ist leer, der Sufi und ich haben es vom Ballast mehrerer Menschenleben befreit, kurz nachdem ich es geerbt habe, weil wir verkaufen wollten (und noch immer verkaufen wollen), aber das ist jetzt schon ein gutes Jahr her, und wir haben nicht verkauft, weil die Wertvorstellungen der potentiellen Käufer von den meinen zu stark differieren.

Wie aber sollte ich auch? Dieses Haus zu billig verkaufen?

Ein Magnolienbaum, so gross wie das Haus, blüht gerade in feierlichem Weißviolett, und eine Blüte davon, die ich im Vorbeigehen unachtsam von ihrem Zweig gerissen habe, steht in einem Wasserglas vor mir auf dem Tisch. Auch der Kirschbaum blüht, dieser Kirschbaum, der in den 20 Jahren seines ungehemmten Wachstums nie mehr als eine Handvoll Kirschen getragen hat, und jede einzelne davon war unerträglich sauer. Und die Marillen blühen, nur ein einziger Marillenbaum, der steht an der Südecke des Hauses, seit ich mich erinnern kann, und der trägt unbeirrt jedes Jahr eine schwere Last an goldenen Früchten, mehr als man essen kann, Marillenmarmelade haben wir früher daraus gemacht, heute: keine Zeit. Wir verschenken die Früchte.

Und die japanische Quitte blüht, die, die im Herbst die giftigen Früchte trägt, zu nichts als zum Anschauen gut: aber wunderschön mit ihren Blüten in dieser unbeschreiblichen Farbe irgendwo zwischen rot und violett.

Und der Goldregen blüht, ein bisschen vulgär aber nicht minder verschwenderisch, strahlend gelb wie die Sonne selbst. Und die Apfelbäume kriegen erste, mit grünlichem Samt verschlossene Knospen, und die Birke: zeigt erstes Zartgrün.

Und das Gras, man glaubt es kaum, ist teilweise schon fünfzehn Zentimeter hoch, höchste Zeit also für die erste Rundfahrt mit dem Rasenmäher, und als ich wie üblich über das für solche Exkursionen völlig ungeeignete Modell von Grasklipper schimpfe, ein elektrisches Ding, das für Schrebergärten designt wurde und angesichts von 1600m2 schon vor Arbeitsbeginn weinend zusammenbricht, denke ich daran, dass in meiner Kindheit und bis weit in meine Jugend hinein das Gras von einem Bauern gemäht worden ist, zweimal im Jahr, der zuerst bezahlt hat für das Heu, das er getrocknet für seine Kühe mitgenommen hat, und irgendwann hat er nicht mehr bezahlt, war also ein Gegengeschäft, Heu gegen Arbeit, und noch später, aber da war ich schon weit weg von hier, wollte der Bauer Geld fürs Mähen, weil er das Heu ohnehin nicht mehr brauchen konnte, und da hat mein Großvater stattdessen diesen Rasenmäher gekauft, das neueste Modell, damals, elektrisch, selbstfahrend und mit einem (ich zitiere die Bedienungsanweisung) „großzügigen Auffangkorb ausgestattet“.

Das beste vom Besten, also. Allein: für einen anderen Zweck.

Und so fahre ich durch den Garten mit diesem Mordinstrument der hüfthohen Sommerwiesen meiner Kindheit, und zwischen zwei Bäumen halte ich inne und sehe vor meinem geistigen Auge die längst verrottete orange Netzhängematte, in der ich Winnetou, Heidi und die fünf Freunde gelesen habe, von April bis Juni, denn danach wurden die Äpfel auf den Bäumen so groß, dass es sicherer war, stattdessen auf einen Baum zu klettern, in dem Garten boten sich einige Bäume mit großzügig bequemen Astgabeln an, und später, im September, waren diese Astgabeln der Inbegriff des Paradieses, denn es genügte, die Hand auszustrecken, und mit einem Biss in den Apfel war man profane Sorgen wie Hunger und Durst los.

Ganze Sommerferien habe ich in den Bäumen verbracht, zum nicht enden wollenden Kummer meiner Großmutter, die jahrelang vergeblich versuchte, mir beizubringen, dass Mädchen nicht auf Bäume klettern.

Der Großvater hatte damit kein Problem, er strich mir grob-zärtlich über die Haare, wenn ich mich nach Stunden entschloß, doch wieder herunterzusteigen, und murmelte zufrieden etwas wie: „Du bist halt mei Bua.“

Bub also musste man sein, um Jeans zu tragen statt Rüschenkleidern, um Karl May zu lesen und auf Bäume klettern zu dürfen.

Wo das doch so schön war, auch für ein Mädchen. Ich ließ das Buch sinken, ermattet von hunderten von Seiten, und war nur mehr froh in der durch die Blätter gedämpften Sommerhitze, im Gesumm von Insekten in das lichtdurchflutete Grün hinaufschauend: zufrieden und froh.

Verzeiht mir, ich schwafle

Aber es ist ein wunderbarer Tag, um zu schwafeln, die feuchte Frühjahrskühle hat sich schliesslich doch zum regnen entschlossen, und so bin ich der Notwendigkeit enthoben, noch etwas im Garten zu tun. Stattdessen sitze ich hier, mit einem Glas herrlichherbem Chianti, und sinniere. Und nur, wer Lust hat, mir zu folgen, liest weiter. So einfach ist das.

Ich nehme einen Schluck aus dem Weinglas, zünde mir eine Zigarette an und schaue in die Kerze. Und das sind drei Dinge, die entsetzlich gewesen wären in der damals natürlichen multiplen Omniversalität meiner Kindheit.

Die Kerze: Könnte Dinge in Brand setzen. Wird also nur am Christbaum angezündet, und dort nur 5 Minuten. Oder zu Ostern, wenn man das heilige Licht aus der Kirche mitbringt, das muss natürlich über Nacht brennen, damit man zum Osterfrühstück ein geweihtes Licht hat.

Aber über Nacht brennt es, eine 48-Stunden-Friedhofskerze, in einem Wasserglas in einer Salatschüssel in der Badewanne. Damit nichts anbrennt. Oder: Wenn meine Mutter da ist. Und sentimental. Dann zündet sie eine Kerze an, und meine Großmutter schleicht alle halben Stunden die Treppen zum ersten Stock hinauf, um zu sehen, ob meine Mutter noch wach ist, ob die Kerzenflamme noch unter Kontrolle ist, oder ob das Haus bereits brennt. Und wenn sie wieder im Erdgeschoß ist, und das Haus brennt noch nicht, dann lamentiert sie über ihr Unglück, das ihr eine Tochter beschert hat, die dermaßen gefährlich Dinge tut wie Kerzen anzünden. Und Wein trinken. So weit hätte es doch nicht kommen müssen. Man hat ihr, der Tochter, also meiner Mutter, doch alles geboten. Und sie hätte auch dieses Kind nicht kriegen müssen. Dann wäre nämlich alles anders gekommen.

Und das Kind war ich.

Und diese Rede, die sich hunderte von Malen in meine Gehörgänge gegraben hat, in dem Nebenzimmer, in dem ich längst hätte schlafen sollen, aber nicht habe schlafen können, weil die Selbstgespräche meiner Großmutter zu laut waren oder weil der Fernseher, den mein Großvater, damals schon schwerhörig, auf seine ganz eigene Zimmerlautstärke gestellt hatte, die Straßen von San Francisco in die ruhigen Weiten der Weststeiermark brachte, diese Rede ging weiter und immer weiter im Kreis, bis es Zeit war, das nächste Mal nach der harmlosen kleinen Kerze zu schauen, die einen Stock höher das ganze Gebäude in Brand zu setzen drohte.

Der Wein: Wurde in halbvollen Achtelgläsern gereicht. Zu Geburstagen, Hochzeitstagen und zu Weihnachten. Und zu Silvester ein Glas Sekt. Alles was darüber hinausging, war Alkoholismus.

Natürlich war Bier im Haus, wenn Handwerker kamen. War der Handwerker aber dumm genug, das ihm zur Jause angebotene Bier zu akzeptieren, war er verloren: Nicht mehr vertrauenswürdig. Ein Säufer. Und daher auch ein „Pücha“. Kein Trinkgeld. Beim nächsten Mal jemand anderen bestellen. (Und wenn jemand irgendeine Idee hat, wo das Wort „Pücha“ herkommt, dann bitte ich um Erklärung).

Die Zigarette: Ein Zeichen für schwache Menschen, die ihre Gelüste nicht beherrschen können. Möglicherweise stimmt das sogar. Nur hat, Jahre davor, mein Großvater auch mit Begeisterung geraucht. (Und Jahre später wird er das fast stolz wieder erzählen: 4 Packeln hat er damals am Tag geraucht! Und dann von einem Tag auf den anderen damit aufgehört. Und als um die siebzig ist, schleicht er heimlich auf die Toilette und versucht es immer wieder einmal mit einer Zigarette, und dann kommt regelmäßig der Kreislaufkollaps. Und die Rettung.)

Und alles das passt irgendwie nicht ganz zusammen mit den ruckelnden Super-8-Filmen ohne Ton, die in irgendeiner Kiste lagern und meine Großeltern, meine Mutter, und die Gastfamilie zeigen an irgendeinem, nein, am adriatischen Meer, in Kroatien, Fisch und Weinflaschen und Zigaretten auf dem Tisch. Die Männer, leger und elegant, schwarzhaarig, die Haare nicht zu kurz aber sehr glatt nach hinten gekämmt, lässig die Zigaretten im Mund, ein Lächeln im Gesicht, als gehörte die Welt ihnen. Die sehr weiblichen und dabei starken und irgendwie auch mondänen Frauen der 50er, der frühen 60er Jahre, ja, auch meine Großmutter ist dabei, und meine Mutter, damals selbst noch beinahe Kind.

Und das erschreckt mich am meisten, wenn ich ans Altwerden denke: Dass es mir auch passieren könnte, dass ich vergesse, wie gut das Leben sein kann, an irgendeinem Tisch, an irgendeinem Meer. Ab und zu.

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