Der eine, der alle ist

5. Mai 2001

Ich gehe durch eine Stadt. Eine seltsam vertraute fremde Stadt. Kopfsteinpflaster unter den Schuhen. An einem Zoo vorbei. Das Licht: Mediterraner Mittag. Hitze stört nicht. Wind vom Meer her. Irgendwo da oben gibt es eine Dachterrassenwohnung, die würde mir gehören, wenn ich hinginge. Ich gehe nicht hin.

Straßenleben. Dinge die klein sein sollten sind groß. Dinge die groß sein sollten sind klein. Jemand fängt ein Zebra in einer Kaffeedose. Er spricht eine Sprache, die klingt wie Musik. Ich kenne die Sprache nicht, aber ich verstehe sie. Das Zebra schrumpft, erklärt er mir. Deshalb muss es zum Tierarzt. Das Zebra wiehert in der Kaffeedose. Die Luft fühlt sich kurz vor dem Gewitter. Kein Wolke weit und breit.

An einem Ding, das aussieht wie eine Mischung aus Regenschirm und Flugdrachen, hängt eine Hollywoodschaukel. Es fliegt lautlos vorbei. Drei Bekannte sitzen auf der Hollywoodschaukel und winken mir , ich soll ihnen folgen. Ich laufe dem Ding nach.

Es landet in einem Garten, der überall ist. Überallhin wären es nur ein paar Schritte. Noch mehr Freunde hier. Und der eine, der alle ist. Das fliegende Spielzeug läuft mit einer neuartigen Magnettechnologie, erklärt man mir. Der Motor sitzt im Gestänge der Hollywoodschaukel. Um zu starten, zu lenken oder zu landen, muss man grosse Eisenstücke, die auf den Stangen sitzen, in bestimmte Positionen bringen. Geht ganz leicht. Verbraucht keinen Treibstoff.

Wir wollen etwas essen gehen. Wir wollen etwas trinken gehen. Auf dem Weg dorthin will ich die Freunde in ihrem Fluggerät filmen. Es sind zu viele Bäume hier, ich kann sie nicht sehen. Auf einer Stromleitung balanciert meine Familie. Ich rufe sie nicht, denke ich, sonst verlieren sie das Gleichgewicht. Ich filme sie.

Wir sitzen in einem Lokal, das zu hell ist und zu stylish. Der eine, der alle ist, erzählt. Mit jedem Satz wechselt er die Gestalt. Das beunruhigt mich nicht. Das ist schon richtig so. Während er sich verwandelt, lege ich meine Hand auf seine Brust. Die Hand spürt alle Unterschiede. Alle Ähnlichkeiten.

Währenddessen ist das Gespräch versiegt. Die anderen gehen. Wir wollen bezahlen. Wir haben schon bezahlt. Wir gehen, Hand in Hand.

Draußen im Garten, der überall ist, stimmt etwas nicht. Wo der Brunnen sein sollte, steht ein Grab. Ich gehe hin, um es mir anzusehen. Goldregen in einem Glaszylinder. Daneben ein Brief, feucht, vergilbt. Erzählt von einem Mädchen, Mitte zwanzig, die eine Krankheit hatte, die erst verblödet und dann tötet. Ein Missionar hat den Brief geschrieben. ‘Sie war wie eine Tochter für mich’, schreibt er. ‘Da war nichts mehr zu machen. Ich fahre jetzt nach Paris, dort werde ich gebraucht.’

Auf dem Brief ist ein Bild des Missionars, schwarzweiß. Kein Bild von dem Mädchen. Aus irgendeinem Grund weiss ich, dass sie blond und langhaarig war. Das Bild vom Missionar ist aus dem 19. Jahrhundert. Ich verstehe, dass das eine sehr alte Geschichte ist.

Neben dem Grab ein Hebel. Wenn ich ihn umlegen würde, würde ich ein anderes Grab sehen. Die Gräber auf diesem Friedhof liegen nicht nebeneinander, sondern hintereinander in der Zeit.

Ich drehe mich um und gehe. Der eine, der alle ist, ist verschwunden. Auch sonst ist der Garten leer. Das Insektensummen verstummt. Alle Bänke, Denkmäler, das Grab verschwinden. Nur mehr Wiese und Bäume. Das Licht wie kurz vor dem Dunkelwerden in einem nordischen Sommer. Die Tore, die aus dem Garten überallhin führen, sind versperrt, versiegelt. Langsam verstehe ich, dass ich tot bin.

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