Eigentlich war ja dieser EM-Sonntag dazu gedacht, nette Public-Viewing Plätze entlang des Wassers zu entdecken. Alte Donau, Donauinsel, Lobau – wenn es demnächst doch wieder warm wird, so dachten wir, wäre das doch nett. Eine Großbildleinwand vor Augen und ein Wässerchen vor den Füßen. Wir starteten um 5 Uhr nachmittags, fanden auch das eine oder andere nette Plätzchen, das Wetter so-so, das Publikum Sonntagsausflügler, die Stimmung: Schrebergarten. Trotz schöner Ausblicke und relaxtem Entengucken – einer musste es aussprechen. Der Sufi fasste es kurz: “Das ist hier nicht der richtige Platz für ein Türkei-Spiel.” Wir beratschlagten kurz, dann war es klar: Heim zu ihm, nach Favoriten. Ein fehlendes Rad an einem Opel auf der Tangentenzufahrt bremste kurz unsere Euphorie, doch auch dieser Stau war bald überwunden. Der zehnte Bezirk indes war verdächtig ruhig. Wir parkten das Auto und schlugen die Richtung “Kümmeltürk” ein (das ist jetzt keine Beleidigung, sondern der Name eines türkischen Lokals, in unserem EM-Büchlein mit dem Symbol für “Großbildschirm” gekennzeichnet).
Den Bildschirm gab es, die Tische aber waren alle besetzt, und es herrschte gepflegte Langeweile. Das bedurfte keiner Worte, wir machten schweigend in der Tür kehrt. Irgendwo hier muss es doch… ich spitzte die Ohren. Dolby Surround Stadion-Sound. Der Sufi entdeckte die zugehörige Tür. Sie gehörte zum Cafe Kümmeltürk, zwei Räume, zwei Fernseher, gerammelt voll. Der Kellner hatte uns entdeckt und organisierte 2 Stühle, der Sufi winkte mich von der Tür in die Mitte. Ich ließ mich auf dem mir zugewiesenen Stuhl nieder und die Augen schweifen. “Ist dir klar”, fragte ich flüsternd den Sufi, “dass ich in dem ganzen Lokal das einzige weibliche Wesen bin?” – Der Sufi nickte entspannt und bestellte zwei Bier. Ich hoffte leise, dass mein demonstrativ unparteiischer Sufi nicht allzu laut über gute Schachzüge der Tschechen jubeln würde. “Das ist ja ein türkischer Sender!” weckte mich der Sufi aus meinen Befürchtungen. Ja, das hatte ich auch schon bemerkt, aber ein Fussballspiel kann man auch ohne Kommentar ganz gut verstehen. Manchmal sogar besser.
Der Rest der ersten Halbzeit eher fade, ein Tor der Tschechen, ein kollektives “ooooouuuh” rund um uns. Sonst weiter nichts als der Gummibärchengeruch von Red Bull.
Die zweite Halbzeit, inzwischen hatten wir uns mit unseren Tischnachbarn angefreundet und waren auf ein weiteres Bier eingeladen worden. Der Sufi erzählte gerade die Geschichte mit dem Esel und dem Bus in der Nordtürkei, da ging es wieder weiter. Der Regen am Bildschirm wurde stärker, das Spiel der Türken aber auch. Trotzdem schossen die Tschechen das zweite Tor. Das “ooouuuuhh” eher ein bisschen leiser als zuvor. Niemand wollte mir erklären, warum der türkische Torwart mit der #23 spielt und warum der türkische Kommentator immer “Kollersch” sagte, wenn er Jan Koller meinte.
Da plötzlich, und eher unerwartet, das 1:2. Rund um uns freudiges Aufseufzen. Kaum 10 Minuten später der Ausgleich – keiner blieb sitzen. Meine Mitfreude ein bisschen gedämpft durch die 120 Kilo, die mir jubelnd auf den Fuss sprangen, aber was soll’s, es war ja keine Absicht. Nüsse, Bier und Red Bull blieben unbeachtet liegen. Die Lautstärke jetzt auf Anschlag. Erstaunlich unaufgeregt immer noch der türkische Kommentator im TV, aber die Stimmen vor Ort machten das mehr als wett. Dann 3:2! Keiner hatte es zu hoffen gewagt, das Glück kannte keine Grenzen. “So müsst ihr das auch machen, morgen!” empfahl unser freundlicher Tischnachbar, bevor er mit seiner Tröte mein Trommelfell für Stunden demolierte. Sitzen war jetzt nicht mehr, zumindest wenn man auf den Bildschirm sehen wollte. Die rote Karte für den Tormann, warum? Die erklärende Zeitlupe erst viel später. Jubel, Ratlosigkeit, Schlusspfiff!
Binnen Sekunden leerte sich das Lokal, auf der Straße bereits die Hölle los. Lauthalse Feierstimmung, man konnte nicht anders als mit. Der ganze zehnte Bezirk ein türkischer Autoparcours, Fahnen, Gesänge, aber alles sehr positiv. Die Polizei genau so freundlich, die Busfahrer zentimeterweise um die Kurve und dabei mitwinkend, der Reumannplatz ein singendes Fahnenmeer. Gegen wen es jetzt im Viertelfinale geht, habe ich momentan vergessen, aber wir werden wohl wieder mittendrin dabei sein.
…und dann war da noch der freundlich angegraute Schauspieler auf dem Weg vom Flugplatz, der mich an der Bushaltestelle in näselndem Schönbrunner-Wienerisch fragte: “Sagen Sie, warum singen und hupen denn die Menschen hier?”
[…] Mit meiner Liebe zu Tschuschenmusik im weitesten Sinn. Mit Begegnungen am Rande des Kontinents. Mit dem persischen Taxifahrer. Mit lederhosentragenden Türken. Und mit Wien, dieser wunderbaren Nicht-Welt-Stadt, in deren Herzen der Balkan beginnt. […]