Ungewöhnlich früh für einen Sonntag klingelte der Wecker: Ich hatte einen Ausflug zum Webermarkt geplant. Als ich aber in den Wetterbericht schaute, um zu erfahren, was ich anziehen sollte, las ich von Windböen, Starkregen und einer Gewitterwarnung, die punktgenau zu meiner Ankunft vorhergesagt war. Nicht die besten Voraussetzungen für eine (teilweise) Freiluftveranstaltung, aber vielleicht wäre ich dennoch gefahren, hätte ich wenigstens die Temperatur übersehen: 16 bis 17 Grad. Ich schauderte leise, schüttelte den Kopf und nahm stattdessen den Kaffee mit ins Bett. Ich lese gerade Doris Lessings „Memoirs of a Survivor„. Der Wiederlese-Fail mit Brave New World und die zunehmende Hörbuch-Unzufriedenheit mit Nattavaara hatten mich recherchieren lassen, welche Dystopien es sonst noch so gibt. Die Leseliste wurde lang, und es wird vermutlich ein literarisch düsterer Sommer werden. Doris Lessing begeistert immerhin wie gewohnt mit Sprache und präziser Beobachtung, aber das Buch ist mehr psychologisch als weltenbauend. Mehr darüber (vielleicht) wenn ich fertiggelesen habe.
Nach einer freundes-medizinischen ChatGPT-Konsultation und halbherzigen Wohnungs-Optimierungs-Versuchen zog es mich dennoch nach draußen. Zuhause in Wien war das Wetter halb so schlimm, und außerdem hatte ich die Einkäufe auf Abwesenheit angepasst, oder einfacher gesagt, es war kein Brot fürs Nachmittagsfrühstück da.
Draußen ist der Wind kühl und doch sommerlich, als würde er vom Meer her wehen. Wetterbedingt geht der Blick nach oben, und er findet Erstaunliches. Was macht denn dieser skandinavisch anmutende hölzerne Dach-Erker auf einem Altwiener Schulgebäude?

Ein paar Schritte weiter, und die üblicherweise streng abgeschirmte Baustellen-Gstättn erlaubt dank abgeholzter Büsche plötzlich interessante Einblicke.

Niemand habe die Absicht, die Gstättn zu verbauen, versicherte mir der Bauarbeiter, der trotz des Sonntags rauchend am Zaun lehnte. Ich hätte ihn vielleicht gar nicht entdeckt, hätte er nicht dem Mann im Krankorb mir unverständliche Anweisungen zugerufen.
Zugegeben, er hat nicht wörtlich so geantwortet, da ist wohl die Geschichte mit mir durchgegangen. Er sagte auf meine Frage nur, dass die Baustelle zum U-Bahn-Ausbau gehört und er nichts davon wüsste, dass hier nachher irgendetwas geplant wäre. Wahrscheinlich also wird die Gstättn nachher doch verbaut, wenn der Matzleinsdorfer Platz ein richtiger Öffi-Verkehrsknotenpunkt ist und die Gegend die besten Voraussetzungen zur Gentrifikation erfüllt. So sind halt die stadtläufte.
Weiter auf dem Weg zur Bäckerei erinnerte mich eine Lautsprecherdurchsage an die Umleitung des 62ers. Der fährt nämlich bis Ende August nicht zum Karlsplatz, sondern zur Matthäusgasse, und weil ich von dieser Gasse noch nie gehört hatte, disponierte ich um und stieg ein. Hinter dem Hauptbahnhof stieg der Fahrer aus, um die Weiche händisch umzustellen. Die Frau hinter mir duftete intensiv nach Patchouli.
Nach dem Quartier Belvedere ging die Fahrt links Richtung Innenstadt, ich war also wieder im Dritten. Die vorübergehende Endhaltestelle ist nicht weit von Innenstadt und Schwedenplatz, und doch wähnte ich mich in einer ganz anderen Welt. Die Gegend erinnert S-Bahn-bedingt an Berlin.



Jenseits der Unterführung feierte die Nostalgie fröhliche Urständ.




Ein paar Schritte weiter wurde es sogar weihnachtlich.

Die schönsten Parks schmiegen sich auch hier um eine Kirche in der Mitte.

Andere Gebäude werfen architektonische Fragen auf.

Die Antwort: Es war einmal ein Kino.
Zudem fragte ich mich zunehmend, warum hier ständig Touristenhorden in allen Sprachen um mich herumschwirrten. Die Antwort fand ich um die nächste Ecke: Ich war deutlich näher am Hundertwasserhaus, als ich gedacht hatte. Als quasi nur eine Quergasse weit, durch das touristisch-kapitalistische Hundertwasser-Village von selbigem getrennt.

Ich unterdrückte meinen Fluchtinstinkt und warf mich ins Getümmel.

Ob der alte Herr mit allen Aspekten dieses Toursitenzentrums seine Freude gehabt hätte, weiß ich nicht. Zwar war er wohl dem Kommerz nicht abgeneigt, aber die Epigonen haben einfach nicht den gleichen Sinn für Ästhetik.

Optisch war auch das Hundertwasser-Häusl eine Enttäuschung, etwa im Vergleich zu dem in der Hundertwasser-Therme. Dass aber aus dem Lautsprecher ein Hundertwasser-Text zum Thema Humus-Toiletten tröpfelte, versöhnte mich wieder mit der Welt.
Dann entdeckte ich doch noch einen Blick-Winkel, der mich erfreute.

Das Hundertwasser-Haus selbst ist optisch in die Jahre gekommen, der Foto-Freudigkeit vor allem asiatischer Tourist*innen tat das keinen Abbruch. Mich faszinierte vor allem die wuchernde grüne Pracht am Dach.



Die Souvenir- und Nostalgiegeschäfte ringsum teilweise sonntagsoffen und oft sympathisch skurril.



Im Hof des Palais Rasumowsky lauerten Ratten (?).

Mich befiel ein angenehmes Fremdstadt-Gefühl; dass diese Umgebung für andere Wiener*innen genau so selbstverständlich ist wie mein Grätzl für mich, schien mir wundersam.
Ungefähr da setzte der Regen wieder ein. Ein Soda-Zitron unter der Markise in einem Marktcafé hielt mich außen trocken und innen hydriert. Man könnte ja auch mit dem 4A zum Karlsplatz fahren und von dort mit der Straßenbahn heim, dachte ich, aber im Bus war es so schwül, dass ich schon nach 2 Stationen wieder ausstieg. Direkt vor einer Veganista-Filiale, das musste ein Zeichen sein. Ich gönnte mir einen Mandelcookie-Himbeer-Doppeldecker und wunderte mich erst über den Preis, dann über die Größe. Bei meinem letzten Besuch waren die gefühlt halb so groß gewesen.

Der Köstlichkeit tat das keinen Abbruch, und vielleicht muss ich meine Überzeugung überdenken, dass Himbeeren am besten mit Bitterschokolade schmecken. Oder vielleicht in Zukunft… Mandeln UND Bitterschokolade? Die Köstlichkeit begleitete mich über das Arsenal hinaus bis jenseits des Hauptbahnhofs, wurde mit den leicht antauenden Himbeeren immer besser, und war am Ende zu meiner eigenen Überraschung vollständig aufgegessen.
Mittlerweile sehen die noch vor ein paar Jahren futuristisch anmutenden Gebäude um den Hauptbahnhof auch ganz normal aus, dachte ich noch, bevor ich angesichts des wiedereinsetzenden Regens in die Straßenbahn einstieg. Vielleicht schau ich mir das bald einmal näher an.



