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Blaulicht

22. November 2005

[Inspired by [einem Blogbeitrag, der leider in den Kittelfalten der Geschichte evrschwunden ist]]

Ich erinnere mich an etliche Fahrten, mit dem Rettungswagen, unter Blaulicht, mitten in der Nacht. Mit Sirene dagegen nie. Vielleicht waren die Straßen einfach noch frei genug, damals, in den Siebzigern, zwischen dem alten Dorf und dem Grazer Landeskrankenhaus. Oder vielleicht habe ich die Sirene nur vergessen. Ich war ja noch ziemlich klein, bei den meisten dieser Fahrten, hätte gar nicht dabei sein dürfen, haben mir Rettungsdienstleute seither oft genug gesagt. Aber vielleicht waren die Vorschriften ja noch nicht so streng, damals, oder vielleicht war das mit ein Grund, warum man bei uns nie das rote sondern immer das grüne Kreuz gerufen hat, bei einem Notfall: Dass man ein Vor- oder Volksschulkind eben nicht alleine zu Hause lassen kann mitten in der Nacht.

Nacht war es immer. Nicht, dass man mich je hätte aufwecken müssen; das hatte jedesmal schon die allgemeine Aufregung erledigt, die diesen Fahrten voranging, jedesmal wieder. Jedesmal, wenn das Herz des Großvaters nicht mehr so recht mitmachen wollte, jedesmal, wenn meine Mutter eine Handvoll zuviel von den bunten Tablettenzuckerln gelutscht hatte, jedesmal war es Nacht. Da war immer viel Licht und Lärm, da war immer meine Großmutter, die hektisch einen Koffer packte, da war die Hausärztin, die, schon wieder aus ihrer Nachtruhe gerissen, mit müden Augen das Nötige tat: Die Rettung anrufen. Jedesmal stand ich in der Tür und wollte helfen und wusste nicht wie und fühlte mich verloren. Sobald man die Rettung gerufen hatte, hat man mir rasch das erstbeste Gewand übergezogen, mich dann bei der Hand genommen, zuerst; bei späteren Malen genügte ein Aufblicken vom zu packenden Notfallkoffer und ein knappes “Zieh dich an, wir fahren.”

Ich wollte immer vorne sitzen, durfte aber nie, es war immer der klapprige Klappsitz hinten, auf dem ich mich wiederfand, jedesmal überrascht und eingeschüchtert, auch als es eine längst vertraute Szenerie war, der jeweilige Notfall auf der Bahre, je nach Notfallsituation hantierte der Rettungsdienstmensch mehr oder weniger hektisch mit mehr oder weniger einschüchternden Geräten, Schläuchen und Spritzen, jedesmal weinte meine Großmutter haltlos in ihr Taschentuch, ein Weinen, das ich von Mal zu Mal weniger verstand, weil ja noch immer alles gut geworden war – nach ein paar Wochen; jedes Mal hatte ich mehr das Gefühl, unnötiger Ballast zu sein, den man nur aus Anstandsgründen nicht am Straßenrand stehen hatte lassen, wobei mir – zumindest bei den späteren Fahrten – das Stehengelassenwerden durchaus lieber gewesen wäre.

Es ist aus den vielen Fahrten eine einzige geworden durch den Gedächtnisrundschliff der Jahre; ich könnte nicht mehr sagen, wann ich das erste Mal dabei war oder wann das letzte Mal, ob der Mensch auf der Bahre öfter meine Mutter war oder mein Großvater; ob ich mehr als ein Mal mit meiner Großmutter geweint habe; ob es nur ein Wagen war, dem der Gurt am Klappsitz fehlte, sodass ich mich nach der Ermahnung des Rettungsmenschen: “Halt dich fest, weil wenn dir was passiert, bin ich schuld” trotz ruhiger Fahrt an den scharfkantigen Sitz klammerte, bis meine Finger nicht mehr spürte (denn ich wusste, wie es war, an Dingen schuld zu sein, für die man gar nichts kann – und wollte nicht, dass dieser nette Mensch wegen mir an irgendetwas schuld sein müsste, egal was kam); – klar und einzeln tritt eigentlich nur eine einzige Fahrt hervor unter dem Suchscheinwerfer der Erinnerung: und da war es mein Großvater, der auf der Bahre lag.

Es war eine ganz schlimme Fahrt, nicht eine halbschlimme – das hatte ich zu unterscheiden gelernt anhand des Blicks der Hausärztin und am Tonfall des Weinens meiner Großmutter – und trotzdem hat mein Großvater, eben aus seiner Ohnmacht erwacht, sich nur darüber beschwert, dass er nichts hörte mit seinem Hörgerät, gerade als der Rettungswagen aus unserer Einfahrt losfuhr. Es wäre nicht unbedingt notwendig gewesen, dass er etwas hörte; er war in seinem Gemurmel ohnehin verloren irgendwo zwischen dem zweiten Weltkrieg und dem Antritt seines Oberinspektorpostens, obwohl er doch mittlerweile längst in Pension war; das einzig Gegenwärtige in seinen Worten war das Verlangen nach einem funktionierendem Hörgerät, und er fuchtelte mit den Armen und hinderte den Rettungsdienstmenschen daran, ihm irgendeine Infusion zu legen, weigerte sich, das beruhigende Tätscheln der weinenden Großmutter zur Kenntnis zu nehmen: Und ich war es, die die Batterie in der Tasche hatte. Die neue Batterie, die auf dem Nachtkästchen gelegen hatte, er hatte sie wohl schon zurechtgelegt für den nächsten Tag, ich hatte sie eingesteckt ohne darüber nachzudenken, einfach weil sie dalag; stand jetzt – ebenso ohne nachzudenken – von meinem klapprigen Klappsitz auf, zupfte meinem blassgelben Großvater das Hörgerät aus dem Ohr, wechselte die Batterie, prüfte das Hörgerät an meinem eigenen Ohr und reichte das Ding dem Rettungsdienstmenschen, der es mit einem anerkennendem Nicken nahm und meinem Großvater wieder aufsetzte. Der beruhigte sich augenblicklich, ließ sich nicht nur das Hörgerät ansetzen sondern auch die Nadel mit Wasauchimmer stechen, und blieb den Rest der Fahrt über ruhig.

Ob meine weinende Großmutter das überhaupt bemerkt hatte, erfuhr ich nie; ebensowenig, ob der Großvater sich je an diese Szene erinnert hat. Trotzdem war plötzlich etwas verändert; von diesem Zeitpunkt an fühlte ich mich nicht mehr völlig überflüssig in dem Wagen; hatte das Gefühl, nach meinen Fähigkeiten und Möglichkeiten etwas bewirkt zu haben. Ich drehte und fingerte die alte Batterie in meiner Tasche, bis wir beim Krankenhaus ankamen. Habe ich schon erwähnt, dass es Nacht war? Die Halle war war leer, bis auf eine alte Frau hinter der Rezeption, die meinem Empfinden nach schon längst nicht mehr arbeiten sollte. Als die Rettungsleute meinen Großvater auf der Bahre über den Gang schoben und ich und meine Großmutter hinterherhetzten,  drehte sich an einer Glastür einer der Rettungsleute um und sagte: “Intensivstation, Kinder sind nicht erlaubt”. Gehorsam blieb ich zurück. Ich wollte ja keine Schwierigkeiten machen. Meine Existenz war schon Schwierigkeit genug.

Ich stand eine Weile an der Glastür, die alte Batterie war längst handwarm in meiner Tasche, ging dann langsam zurück in die Empfangshalle; die Frau hinter dem Tresen hob auch jetzt nicht den Kopf, ich ging die ganze lange Reihe von Wartesesseln entlang in der Hoffnung, irgendwo irgendetwas Lesbares zu finden – es gab nichts – setzte mich dann, auf den Sessel, der dem Gang mit der Glastür am nächsten war, und wusste, ich konnte nichts anderes tun als… warten. Natürlich war ich müde, gleichzeitig aber hellwach. Dass mein Großvater überleben würde, stand für mich außer Zweifel – er hatte ja schon so oft überlebt. Ich dachte vielleicht darüber nach, wie viele Wochen lang wir diesmal täglich ins Krankenhaus fahren würden. Meine Großmutter bestand nämlich darauf, bei jedem Krankenhausaufenthalt eines Familienmitglieds täglich im Krankenhaus zu erscheinen, und das die ganze erlaubte Besuchszeit lang. Und weil sonst niemand auf mich aufpassen konnte, war ich immer mit dabei.

Wahrscheinlich dachte ich genau darüber nach. Und darüber, dass das ziemlich mühsam war – das hieß nämlich, dass ich täglich nach der Schule sofort mit meiner Großmutter in den Bus steigen musste und erst nach Einbruch der Dunkelheit heimkommen würde. Dass ich dann, abends und bei Lampenlicht, müde, meine Schulaufgaben machen musste. Dass mir keine Zeit bliebe zum Lesen. Oder zum Funken. Oder mit der Modelleisenbahn zu spielen. Solche Gedanken mag man ablegen unter “Kinder sind grausam”; aber ich bin damals wirklich nie auf die Idee gekommen, dass so ein Krankenhausaufenthalt jemals anders als gut enden könnte – die hatten ja bisher alle immer gut geendet.

Jedenfalls war es sehr still dort in der Wartehalle. Es war sehr lange sehr still dort in der Wartehalle: nämlich so lange, bis es plötzlich laut wurde. Ein neuer Rettungswagen fuhr vor, draußen auf der Rampe, Türen schlugen, Stimmen schrien sich irgendwas zu, die Schwingtüren schwangen auf: Eine Bahre, ein Körper unter einem grundsätzlich weißen, jetzt aber großteils blutigroten Tuch; Sanitäter, die die gleiche flüssigrote Farbe auf ihrem Gewand und auf ihren Händen trugen; im Laufschritt die Bahre an mir vorbei in die selbe Richtung schoben, in die vor einer Ewigkeit mein Großvater verschwunden war.

Schon damals habe ich gerne die Geschichten hinter den Dingen erfunden, in meinem Kopf. Die Geschichte unter dem blutigen Leintuch schwankte, zumindest in meinem Kopf, zwischen Verkehrsunfall und Messerstecherei. Wieder verging eine lange Zeit, und ich wurde langsam ein bisschen nervös, weil ich meiner Großmutter durchaus zutraute, mich in so einer Situation zu vergessen. Wenn mir nur eingefallen wäre, wie ich die unentwegt unbewegte Frau hinter dem Tresen hätte ansprechen können, ich hätte es getan. Aber mir fiel nichts ein.

Dann hörte ich die Glastür schwingen. Heraus kamen die Rettungsleute, die zuvor im Laufschritt das blutige Etwas vorbeigeschoben hatten. Und es folgte, vermutlich ohne dass mich einer der beiden bemerkt hätte, folgender Dialog:

– Heast, I hob an Hunger,
– Jo, eh. Gemma zum Würstelstand. I mecht ma nur vorher di Händ waschen.

In dem Moment begriff ich (ohne es zu verstehen), dass der Ausnahmezustand, in dem ich mich zu befinden glaubte, für die Beiden tägliche Relität war. Dass sie, und viele andere wie sie, auf der ganzen Welt täglich Herzinfarkte, Unfall- und Verbrechensopfer und in vielfacher Form chemisch beeinträchtigte Personen von der Schwelle des Todes zurück ins Leben fuhren; und: dass alle meine Kopfgeschichten verblassen mussten vor einer solchen Realität.

Viel später hätte ich so etwas einen Flash genannt. Und jetzt, also noch viel später, hätte ich aller Wahrscheinlichkeit nach einen zynischen Scherz auf den Lippen in so einer Situation. Viel weniger später, vielleicht eine halbe Stunde oder vielleicht auch nur 10 Minuten nach den blutigen Helden, kam meine Großmutter von irgendwoher und wir fuhren mit dem Rettungswagen und unseren eigenen Helden nach Hause zurück. “Sie ist müde.” entschuldigte die Großmutter mein Schweigen, weil ich so gar nicht reagieren wollte, als mir einer der Helden endlich alle Gerätschaften im Wagen erklärte (und darum hatte ich etliche Fahrten lang gebttelt); ich aber war nicht müde, sondern nur beeindruckt.

Es war nicht das erste und ebensowenig das letzte Mal, dass man mich völlig missverstanden hat.

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