Berggeschichten

14. Oktober 2003

Der Eine, der alle ist, wandert einen Bergkamm entlang, alles sehr trocken und grau hier. Der Wind weht den Staub auf, der in meinen Augen brennen müßte, es aber nicht tut: ist ja nur ein Traum. Wenn er hier ankommt, dann wird er hungrig sein und durstig, der Eine, der alle ist; in der alten Hütte suche ich die Vorräte zusammen, um ihn gebührend zu empfangen. Viel ist nicht mehr da, ich müsste wieder einmal jagen gehen. Dazu ist noch Zeit genug, der Weg des Wanderers ist lang.

Mit dem Gewehr in der Hand steige ich hinunter, dorthin, wo einmal Wald war, hier muss es heftig gebrannt haben, oder woran sind die Bäume gestorben?

Man muss wissen, was man schießt, heutzutage; die meisten Tiere sind verseucht, krank, ihr Fleisch würde uns töten. Aber dort ist ein Reh, das gesund aussieht. Ich hebe das Gewehr. “Keine Chance” ruft das Reh und hoppelt davon; verdammt: wenn es sprechen kann und dazu noch hoppelt, dann ist es auch verseucht. Es hat keinen Sinn, das Tier zu töten, obwohl das Schussfeld klar und frei ist.

Sonst regt sich nichts im ehemaligen Wald, lange Zeit sitze ich und warte neben dem rauschenden Bach, dessen Oberfläche silbrig schimmert. Trinken kann man dieses Wasser auch nicht mehr, obwohl das metallische nur obenauf schwimmt & mit einem Stock leicht beiseite zu schieben ist. Getrunken wird das Regenwasser, aber auch das muss man auffangen, bevor es mit dem Boden in Berührung kommt.

Erfolglos steige ich wieder hinauf zur Hütte. Der Eine, der alle ist, ist schon angekommen. Er sitzt auf der Bank vor dem Haus, schaut auf das tote Land und weint.

Nichts und niemand ist mehr da, erzählt er später, vor dem Feuer, das mangels Brennmaterial auch langsam zur Neige geht.

Seltsamerweise beunruhigt mich das alles nicht. Ich packe meine wenigen Sachen in den Rucksack; morgen brechen wir auf, sage ich, an die Küste.

Der Eine schnaubt und zuckt die Schultern, meinetwegen, sagt er. Später liegen wir da, eng nebeneinander, wir schlafen nicht, wir reden nicht, wir zärteln nicht.

Es wird ganz dunkel, als das Feuer ausgeht. Viel später ein mondartiges Kaltlicht durch das Fenster. Auf eine unverständliche Art ist alles völlig hoffnungslos und trotzdem erträglich. Ich bin stark, unbesiegbar: Ich bin die Überlebende.

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