Die Eröffnungsrede von Ferdinand Schmalz kommt zwar nicht an die literarische und gesellschaftliche Wucht der Vorjahre heran (Anna Baar, Tanja Maljartschuk), stellt aber einen interessanten Gedanken in den Literaturraum: Man möge sich nicht fragen: Was stimmt mit der Literatur nicht? sondern: Was stimmt mit unserem Lesen nicht? Und dieser Gedanke ist wichtig, weil Literatur halt eben nicht gefällig sein soll, sondern sperrig und widerständig.
Am Donnerstag dann die ersten Lesungen. Ich merke schnell, dass der Commuity-Talk diesmal vorwiegend auf Bluesky stattfindet. Ich weiß wirklich nicht, woher meine Bluesky-Abneigung kommt, aber sie ist zu stark, um dort einzusteigen. Dann tröte ich halt mehr oder weniger alleine vor mich hin, denke ich, weniger trotzig als ein bisschen aufgeräumt. Bei aller Community-Liebe freut mich der Gedanke an einen Bachmannpreis (fast) wie ganz früher, als man noch mit den Texten und der Jury alleine vor dem Fernseher war. Aber eine kleine Literaturbubble findet sich dann doch auch auf Mastodon zusammen.
Sarah Elena Müller, CH: Wen ich hier seinetwegen vor mir selbst rette
Die Schwelle, das Ich, das Er und die Droge(n). Alles dreht sich um die Schwelle, die Nadeln und den Stoff. Nun ist ja Schreiben oft Selbsttherapie, einen Text, der das Leitthema nimmt, erinnere ich aber nicht. Der Therapeut als internalisiertes Über-Ich. Dabei sehr schöne Sprache, eingängige Bilder. Resonanzsatz:
Nicht Rio, nicht sein Stoff, die Hoffnung selbst löscht mich aus.
Die Jury hat offenbar mehr Erfahrung mit Beziehungen zu Drogensüchtigen als ich. Tingler zickt anfangs schon, sagt dann aber recht Gescheites. Man begeistert sich an der Doppeldeutigkeit von „Stoff“. Kastberger mag keine sprechenden Gegenstände.
Ulrike Haidacher, A: Schwestern
Och nö, ein Sterbetext, tröte ich gleich anfangs. Es ist aber noch schlimmer, es ist ein sehr banaler Sterbetext mit gesellschaftspolitischen Einstreuungen der angespannten Situation in der Pflege.
Kastberger (hat eingeladen) ist begeistert über die Nahtoderfahrung (meine Worte), ansonsten herrscht beherrschte Kritik im Sinne der Banalität.
Spricht in seinem Videoportrait von Jandl, Rap und Beatboxen, der Text ist dann aber ganz klassisch erzählerisch langatmig. Der Vater ein Münzsammler preußischer Herkunft. Ein Schweizer Deutschlandtext, ein konservativ geprägter Familientext. Dabei feine Bilder und Gschichterln in der Geschichte, aber mir unterm Strich dennoch zu zahm. Die Jurydiskussion dazu interessiert mich gar nicht.
„Vielleicht bin ich heuer einfach nicht bachmannpreiskompatibel“, tröte ich in innerlich nervösem Selbstzweifel. Zum Glück kommt dann ein Text für mich:
Tijan Sila, D/BIH: Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde [Bachmannpreis]
Stark. Beklemmend lesenswert.
Jury größtenteils begeistert; aus der Verrücktheit wird eine kriegsbedingte Verrückung der Welt abgeleitet, und ja, da ist was dran.
Christine Koschmieder, D: Nylfrance
Der erste Text heuer, der sich klar von der Autor*innenbiographie entfernt. Bin überrascht, wie erleichternd ich das finde. Interessante Geschichte zudem. Schöne kleine 60er-Jahre-Miniaturen, die Wurzeln in den 50ern, aber die Geschichtenzeit ist 60er, denke ich doch.
Die Jury fragt zu viel „Warum“: Warum man einen solchen Text jetzt bringen muss, warum sie denn gegangen ist, warum die Verbrennung am Finger eine Relevanz hat.
Ich bin froh, immerhin textlich doch noch im Bachmannpreis angekommen zu sein.
Freitag
Sophie Stein, D – DIE SCHAKALIN
Wir steigen ein mit Blut und schaurigen Bildern und lassen uns dann in eine Geschichte verwickeln, in der die Befreiung von Kindheitstraumata angeboten wird, offenbar eine Gentechnik-Start-Up-Idee. Die Schiffsfahrt im Donaudelta ist voller kleiner, schöner Bilder, von denen manche surreal sind. Ein bisschen auch eine Nicht-Liebesgeschichte, denke ich, denn warum sonst sollte er ihr vorschlagen, beim nächsten Mal seine Eltern kennenzulernen. Die Geschichte bleibt aber abseits der Landschaftsmalerei blutleer.
Die Jury findet zu viele Adjektive (da stimme ich zu), und den Schluss zu abrupt. Dann aber packte mich das Entsetzen, denn die Jury zelebriert das Unwissen. „Wer kennt schon eine Zwergschabe, wer weiß schon, wo steuerbord und backbord ist?“ fragt Kastberger im Sinne seines Verdachts, der Text wolle „angeben“. Und auf die Ansage von Strässle, er habe ein Detail aus dem Text gegoogelt, sagt Tingler sinngemäß: Ich google so etwas nicht, ich habe ja ein Leben. Ich wünsche mir endlich wieder einen faktischen iTüpferl-Reiter in der Jury, wie Karl Corino es war.
Henrik Szanto, D/FIN/UK: Eine Treppe aus Papier
Der Einstieg lässt mich an „we didn’t start the fire“ denken, dann ist es aber ein Haus, das spricht. Es wird ein wunderbares und gleichzeitig schreckliches Kaleidoskop aus bunten und grauen und braunen Leben und Zeiten, lyrisch wertvoll, auch wenn es optisch nicht so gesetzt ist.
Die Vorstellungen dieser Zeit sind hartnäckig und voller Geduld.
Die Jury diskutiert, ob man den Text mit einem Wimmelbild vergleichen darf, ist sich aber weitgehend einig, dass das ein guter Text war.
TEXT Denis Pfabe, D: Die Möglichkeit einer Ordnung [Deutschlandfunkpreis]
Trauerbewältigung im Baumarkt. Surreales Ende. Und ziemlich gelungen.
Jury beginnt begeistert, nur Mithu Sanyal hat sich gelangweilt. Tingler, der den Text mitgebracht hat, muss schon wieder erklären, wer seiner Meinung nach was nicht verstanden hat. Schwens-Harrant, Kastberger und noch jemand gehen nicht gerne in den Baumarkt. Delius betont zurecht, dass es nicht relevant ist, ob die Jury gerne in Baumärkte geht. Es wird textabseits scharmütztelt, Tingler kriegt endlich mal ein bisschen Kontra auf seine überhebliche Art.
TEXT Olivia Wenzel, D: Hochleistung, Baby
An diesem Text wird mir vor allem auffällig, wie sehr jede Art von Körperlichkeit und Sinnlichkeit in den bisherigen Texten abwesend war. Hier dagegen ist sie Leitthema, von Masturbation über Kinderkotzen bis hin zu Milchstau. Dass viel davon geträumt ist, wird mir schon beim ersten beiläufigen Hören klar, die Jury muss sich da erst hindiskutieren, ist aber weitgehend wohlwollend bis begeistert, bis auf Tingler, der Kitsch sieht, wo keiner ist. Die Autorin meldet sich selbst zu Wort, sogar um eine Frage zu stellen.
TEXT Kaska Bryla, A/POL: Der Kakerlakenschwarm
Eine leicht surreale Covidgeschichte im Wagenlager, mit zu fütternden Krähen, einem gestorbenen Hund und einer zu schreibenden Lebensgeschichte. Sperrig gelesen. Die Story hat alle Elemente um mir zu gefallen, gefällt mir aber trotzdem nicht.
Die Jury zeigt sich gereizt gelangweilt.
Abends, während ich die tagsüber verpassten Texte nachhole, denke ich ein bisschen sehnsüchtig an die ganz alten Zeiten. Damals, als der Bachmannpreis noch ein viertägiger Literatur-Rausch war, in dem man willig untergehen konnte wie in einem wilden Wörterwellenbad, egal wie hart die Texte und die Kritiken zeitweise waren. Nicht ein dreitägiges Literatur-Nebenbei wie heute, dem man trotz Alltagsanforderungen eh leicht folgen kann.
Samstag
Semi Eschmamp, CH/D: Ist Realität selbst da, wo sie nicht hingehört?
„Ich bin schockverliebt in diesen Text“, trötete ich nach nicht einmal 5 Minuten. Heruntergefallenes Lächeln, das abgestaubt wird. Schnuppernde Blicke.
Der Blick selbst trottete orientierungslos auf dem Bürgersteig seinem Besitzer vorweg.
Noch viele weitere sofort eingängige Miniaturen. Die Angst ist auf Urlaub. Die Zeitung zappelnd unruhig. Der Stil ist nicht ganz durchgehalten, ich habe dennoch viel Freude.
Die Jury findet das hingegen altbacken. „Klassisch phantastisch, aber aus der Zeit gefallen“, meint etwa Strässle. Tingler freut sich immerhin wie ich über die surrealen Anklänge, findet aber, die Sprache sei streckenweise vom Lastwagen gefallen. Kastberger denkt darüber nach, ob das eine KI geschrieben haben könnte, er hat also auch noch nicht mit KI gespielt. Laura de Weck (heuer neu, hat eingeladen) freut sich über den Einblick in das Innenleben des Protagonisten.
Johanna Sebauer, A/D: Das Gurkerl [BKS-Preis] [Publikumspreis]
Bereits am Titel erklärte sich das T-Shirt von Klaus Kastberger, und schon nach ein paar Sätzen hätte ich auch gern ein T-Shirt mit fürwitzigem Gurkerl gehabt. Der in schöner österreichischer Sprache satirisch erzählte „Gurkerlwasservorfall“ erscheint mir erst etwas zu massenkompatibel, entwickelt sich aber zu einer immens präzisen satirischen Analyse von allem, was mit unserer (Social)-(Media)-Gesellschaft falsch ist. Ich höre Anklänge an Josef Hader, aber auch Stefanie Sargnagel, man könnte auch weiter in österreichische Kabarett-Traditionen zurückgreifen, muss aber nicht.
Die Jury ist durchwegs angetan und spielt mehr mit den Austriazismen, besonders natürlich den hingeschimpften, als einen literarischen Faden aufzunehmen. Strässle hat offenbar besonderes Vergnügen daran, die „drecksoaschlochaten Ananasblätter“ zu zitieren, er tut es mehrmals. Kastberger erklärt, eine Jause ohne Essiggurkerl ginge gar nicht.
Miedya Mahmod, D: Es schlechter ausdrücken wollen. Oder: Ba, Da. [hätte Preis bekommen müssen!]
Da fordere ich immer lyrische Sprachgewalt, und dann kommt sie daher und ich kann nix damit anfangen. Dachte ich zuerst. Mit geöffnetem Text komme ich drauf, dass es der Vortrag ist, der mich dem Text fernhält, denn der Text selbst ist großartig. Er ist zu reich, um ihn kurz zu beschreiben. Selbst der Versuch, ein Zitat zu finden scheitert, weil alles so sehr mit allem zusammenhängt. Mayröcker fällt in der Jurydiskussion als Anklang, und das passt gut, nur halt mit einem international-migratorischem Element.
In der Jurydiskussion stellt sich heraus, dass andere den Vortrag als bereichernd, sogar als erst sinngebend für den Text empfunden haben (de Weck, Schwens-Harrant). Das verwundert mich, weil es mir umgekehrt ging. Ansonsten schön besprochen, nur Tingler ist intellektuell unbefriedigt und scharmütztelt ungut von oben herab mit Sanyal. Kastberger überfährt Tingler mit dem Mähdrescher des kollektiven Bewusstseins. Braucht es überhaupt noch eine akademische Literaturkritik angesichts solcher Texte und der Publikumsreaktion, fragt er. Das ist sehr Forum Stadtpark von ihm, finde ich.
Tamara Stajner, A/SLO: Luft nach unten [Kelag-Preis]
Eine schwierige Mutterbeziehung, (psychische) Missbrauchsanklänge, eine eigene Krankheit (?) und viel ex-jugo/Austro-Gefühl. Das ganze in eine sehr nachvollziehbare (‚relatable‘) Sprache gepackt. Die Autorin singt (verblüffend richtig) und imitiert MRT-Geräusche, was hart an der Grenze, aber im Endeffekt dennoch stimmig ist. Gegen Ende kommen ihr die Tränen, der Moment überfordert mich, aber das macht die gute Geschichte nicht schlechter. Die Jury sagt weitgehend Erwartbares.
Die sonntägliche Preisverleihung noch umständlicher als eh schon. Gab es das schon einmal, dass Tingler zwei Preisträger mitgebracht hat?
„Hätten wir das auch überstanden. Dass #mahmod keinen Preis bekommen hat, nehme ich der Jury wirklich übel. Alles andere passt eh so ungefähr. #tddl„
…tröte ich mein Fazit.
Kastberger nennt in seinem Fazit die Literatur als verbindenden Faktor und endet mit einem verblüffend kapitalismuskritischen Bachmannzitat.
Wünsche fürs nächste Jahr: Weniger (potentiell) autobiographisches. Mehr Wissbegierde in der Jury. Mehr Experimente. Weniger Literaturbetrieb. (Die letzteren zwei Dinge wünsche ich mir eh jedes Jahr.)