Seit mittlerweile 12 Jahren pflege ich meine ufer- und feldlose, allumfassende Lebens-, Arbeits-, Kunst- und Ideendatenbank in Evernote. Am Desktop, am Fon, im Web hat mir Evernote vieles leichter gemacht, vor allem wohl deshalb, weil durch die mächtige Suchfunktion eine Vororganisation fast überflüssig wurde, was meinem Lebens- und Arbeitsstil durchaus entgegenkommt. Ich habe den Elefanten mit dem Untertitel „your second Brain“ unzählige Male weiterempfohlen, habe ihn zwar auch schon früh kritisiert, aber meistens eher verteidigt, egal, ob es nun um Funktionsverirrungen, Bugs oder die fehlende Integration von Benutzerwünschen ging, oder gar um die Preisgestaltung. Ich war, über die Jahre betrachtet, nicht immer glücklich, aber im Endeffekt doch lange Zeit sehr zufrieden.
Erst in den letzten Monaten schlich sich zunehmendes Unbehagen ein. Erst kam es über die Support-Kommunikation, die – selbst für zahlende Benutzer – an (wie es aussieht unbezahlte) „Evernote Gurus“ ohne Zugriff auf irgendwas ausgelagert wurde, was bedeutete, dass man erst einmal 3 Mails mit irrelevanten Informationen austauschen musste, bevor ein „echter“ Techniker sich überhaupt einschaltete. Dann häuften sich die lästigen Bugs. Augenscheinlich leere Notes, die ihren Inhalt partout nicht in der Desktop-Version preisgeben wollten (im Web und Android aber durchaus vollständig waren). Verzögerungen beim Suchen, die nach jedem getippten Buchstaben reichlich Zeit zum Kaffeekochen, -trinken und schließlich auch noch Häferlabwaschen boten. Synchronisationsfehler, die zu einem überfließenden „Konflikte nach Änderungen“ Notebook führten. Eine grottenschlechte neue pdf-Integration. Ein unsinnig herumhupfender Cursor. Und, am schlimmsten von allem: Kaum Kommunikation zu den genannten Themen von den Entwicklern. Neue Versionen brachten zunehmend mehr neue Probleme als Lösungen.
Ich bin im Grunde sehr nachsichtig mit meinen großen Lieben, aber EN hat die Grenzen im letzten Jahr mehrfach überschritten. Und ich suchte, anfangs hoffnungsfroh, dann zunehmend resignierter, nach Alternativen. Und fand immer dieselben Verdächtigen, mit denen ich mir allerdings nicht nur keine lebenslange Beziehung, sondern nicht einmal ein kurzes, heißes Techtelmechtel vorstellen wollte. Als da wären…
- OneNote. Oida, ich schwör, ich hab’s wirklich versucht. Quasi bei jeder neuen Version wieder. Vor allem, weil so viele EN-Abwanderer so laute, begeisterte Loblieder davon singen. Aber dieses pickige WYSIWYG und ich, wir werden keine Freunde mehr, nicht in diesem Leben. Ganz zu schweigen von dem schon optisch unerfreulichen Pseudo-Notizbuch-Look, der technisch noch viel weniger aufgeht. Bevor ich Onenote verwende, druck ich mir lieber wieder alles aus und kauf mir einen Wandschrank. Oder 2 oder 3. Echt jetzt.
- Google Keep. Ich mag den Look mit den vielen potentiell bunten Zetteln, und weil die Freude beim Anschauen ja doch auch viel Arbeitsfreude bringt, habe ich immer wieder damit rumgespielt. Eigentlich suche ich noch immer eine sinnvolle Aufgabe für die App in meinem Webuniversum, eben weil ich sie so gern anschaue. Aber unterm Strich ist es zu restriktiv. Dokumente nur über nackte Google Drive Links einbinden, pdfs gar nicht hochladen können, Notizzettel nicht crossreferenzieren können – da fehlt einfach zu viel.
- Simplenote. Viel. zu. simpel.
Und dann noch eine Handvoll, die sowieso nicht in Frage kommen – weil Mac-Universum only, weil keine menschenlesbare Exportmöglichkeit, weil zu collaboration-orientiert, weil zu teuer, weil… noch ein paar andere Gründe.
Ich wälzte eigene Ideen und Lösungen. Google Drive würde mit ein bisschen Arbeit wohl fast hinkommen, liegt aber zum Organisieren einfach nicht gut in der Hand, obwohl schreiben und rechnen leiwand laufen. Dropbox Paper, ok, vielleicht werd ich alt, aber ich finds sehr unintuitiv. Oh, und: Die DSGVO! Wie halten es die Anbieter denn alle mit der DSGVO? Vielleicht muss ich mir ja jetzt wirklich mein eigenes privates Wiki basteln und NAS anschaffen?
Aber, oh! Bei meiner ungefähr 157. Suche im heurigen Jahr stolperte ich über Notion. Ich spiel jetzt ungefähr seit einer Woche damit herum, und es ist die eierlegendste Wollmilchsau-Verbindung aus Wiki, Datenbank, Dokumentenmanagement und Text Retrieval, die ich bislang gesehen habe. Verblüffend einfach trotz bereitstehender Komplexizität. Und ein Mekka für Markdown-Fans (Ich bin bislang eigentlich keiner, aber in dieser Umgebung werd ichs vielleicht noch). Optisch schlank, aber mit allen Völle-Optionen. Mit 4€/Monat für unlimitierte Einträge/Uploads billiger als Evernote. Und, für alle Fälle, ein bereitstehender DSGVO-Vertrag.
Natürlich hat mein Enthusiasmus eine vorsichtige Note: Wer weiß, ob dieser neue Player (wobei, die sind seit 2 Jahren am Start, ich weiß nicht, warum ich sie bislang übersehen habe) auch mit meinen > 22.000 Notizen umgehen können wird. Wer weiß, ob die für „bald“ versprochene Android App auch wirklich bald kommt. Und, ob es für Notion überhaupt auch eine ifttt- oder Zapier-Integration geben soll, ist derweil nicht geklärt.
Aber.
Es ist neu, es ist shiny, und es ist wirklich, wirklich vielversprechend. Tatsächlich könnte ich alle meine EN-Inhalte recht automatisiert importieren, aber derweil ich zweigleisig fahre, werde ich die Chance zur Reorganisation ergreifen. Oder, ich werds zumindestens versuchen.
Malsehen, malsehen.
[…] In meinem Universum zuerst als Evernote-Ersatz vorgesehen, hat Notion mittlerweile eine andere Rolle eingenommen. Als Dokumenten-Archiv ist es nicht wirklich […]