Lauthals schallt John Lennons Stimme über die Gassen, aber entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten will ich gar nicht wissen, wer im August Weihnachtslieder hört. Ich will es wirklich nicht wissen. Ich will nur, dass der Unsinn aufhört.
Ich starre auf das Bild auf dem Tisch,
das Bild, das ich gestern aus den Klauen der Windböen gerettet habe; der Naschmarkt nach dem Flohmarkt sah aus wie ein Schlachtfeld; Zeitungspapier, Glasscherben, Gemüsereste, ein hochhackiger Damenschuh. Und dieses Bild. Ich weiß auch nicht, warum ich mich gebückt habe, es aufzuheben; reiner Reflex wahrscheinlich, ein paar Passanten schauten mich mit dem Blick an, mit dem man eben Leute anschaut, die im Abfall herumwühlen, ich hatte zwar nicht gewühlt sondern nur zielsicher nach dem Bild gegriffen; die Blicke sprachen trotzdem Bände. Aber was macht das schon.
Ich hielt das Bild in der Hand und fragte es, warum es ausgerechnet mir in die Hände fallen wollte, so erschien mir das, ich betrachtete den Teich und die Enten, falls das nun Enten sind, wenn man näher ran geht sieht es aus wie Pelikanschnäbel, aber Pelikane hätten ja eine andere Körperform. Ich drehte es um; nichts weiter, nur ein “z” in Kurrentschrift, mit Bleistift geschrieben, was immer das auch irgendjemandem irgendwann einmal bedeutet haben mag.
Ein “z” in Kurrentschrift, wer weiß wie lange es noch Leute gibt, die das lesen können, ganz normal und zufällig. Natürlich wird es wahrscheinlich immer den einen oder anderen geben, der es lesen kann; Historiker, Sprach- und Schriftexperten, eben die Leute, die auch heute noch des Lateinischen und Altgriechischen mächtig sind, aber: Wie schnell sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass einer, der zufällig vorbeikommt und dieses Foto aufhebt, mit dem Kringel irgendetwas anfangen kann?
Draußen spielt man übrigens gerade “Last Christmas”, ein Song, den ich hasse, seit dem Jahr in dem er erschienen ist. Ich war in der dritten Klasse, es war die Zeit, als wir im Internats-Schlafsaal rote Tücher über den Luster hängten, um mit tragbaren Radios Disco zu spielen. “Last Christmas” gehört zu den Melodien, die mir vorkommen, als würde jemand die Töne auf meinen Nervenenden zupfen; kein angenehmes Gefühl, kann ich allen versichern, die Musik nicht so unmittelbar erleben wie ich; was ungefähr 97% aller Menschen sind, wie ich mittlerweile verstehe; kaum jemand kann sich vorstellen, dass die falsche Musik körperlich weh tut (die richtige Musik im falschen Moment übrigens auch), ist wohl ein Defekt von mir, mit dem ich unverstanden zu leben gelernt habe. Wie vieles andere auch.
Der photographisch eingefrorene Ententeich gibt sein Geheimnis nicht preis, auch nicht als es draußen endlich wieder ruhig ist. Auf Arte zeigen sie etwas zu Homer und Odysseus und Griechenland als Wiege der abendländischen Kultur, mit Schnittfolgen, die ich nicht einmal meinen besten Freunden zumuten würde. Ich frage mich, warum ich das alles aufschreibe, und lasse “warum nicht” als Antwort gelten.
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, jetzt, dann wäre es einer von den Momenten, in denen alles seine Richtigkeit zu haben scheint.
Wie damals, in dem Amphitheater. 1987. oder war es ‘88? Altgriechische Tragödie, Theodorakis-modern-Musik. Kein Wort verstanden, und doch irgendwie alles. Es ist mir schmerzlich bewusst, dass ich nie richtig “Danke” gesagt habe für diese Einladung; wie für manches andere auch nicht. Vielleicht, hoffentlich, wiegt sich ja wirklich alles auf, irgendwo, am Rande des Universums, oder auch dort, wo wir am nächsten Tag gefrühstückt haben, unter dem Feigenbaum, im Hof, im “Haus vor der Welt”. Schließlich gibt es ja auch genügend, wofür mir niemand “Danke” gesagt hat. Ich habe also noch eine Chance auf die Null.
Wie?
Jaja, ich wollte abnehmen, aber so ein paar Olivchen mit Schafskäse drin werden ja wohl nicht so viele Kalorien haben, oder? Schön wäre ja ein Glas Retsina dazu, aber den habe ich natürlich nicht im Haus. Und der Rotwein und das Bier würden so gut zu diesem Abend passen wie die Weihnachtslieder vorhin. Also gar nicht.
In Delphi war ich übrigens nie, aber dafür in Olympia. Es war sehr heiß, sehr geschichtsträchtig und sehr gelsenverseucht. Am Parkplatz vor dem Museum habe ich um einen Lift gebettelt, letztendlich erhört von einem Enduro-Fahrer, der nach Kalamata weiter wollte. Daher kurzbehost & kurzbeärmelt am Sozius quer durch den Peloponnes, die Arme & Beine am Abend sahen aus als hätte ich die Masern, das war von den vielen Insekten, die bei 100km/h gegen mich geprallt waren. Der Sohn des Campingplatzbesitzers ein paar Kilometer südlich von Kalamata versuchte, mich betrunken zu machen, um mich ins Bett zu kriegen. Während er die anderen Gäste bediente, schüttete ich meinen Wein in die Kakteen. Ich wollte ja nicht unhöflich sein, aber ihn wollte ich auch nicht. Er gab nicht auf und versuchte es mit Ouzo. Ouzo habe ich immer schon ausgezeichnet vertragen. Wir tranken, bis er einschlief, die Arme auf dem Tisch, den Kopf auf den Armen. Ich wankte sehr zufrieden “heim” in mein Schlafsackbett unter den Sternen.
Am nächsten Tag beim Frühstück wurde mir klar, dass ich es wirklich übertrieben hatte am Abend zuvor. Dass das nicht mein verkaterter Kreislauf, sondern ein richtiges Erdbeben war, dämmerte mir erst, als der Hund, der seinen Schwanz jagte, verdächtig zu taumeln begann. “Äh“sagte ich zum vorbeilaufenden Kellner, eigentlich wollte ich ihn fragen, ob er auch sah, was ich sah, aber er kam mir zuvor: “Oh don’t worry”, sagte er, “It’s not strong. Only 4. Maybe 5.”
Es war vier komma sieben, das Erdebeben, auf der Richterskala, übersetzte am nächsten Tag das deutsche Pärchen aus der Zeitung, das Pärchen, das mir am Abend des Erdbebens einen Schlafplatz im selbstausgebauten R4 angeboten hatte, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass ich wirklich freiwillig ohne Zelt auf der Erde schlief. Ich wiederum konnte mir nicht vorstellen, wie man bei diesen Temperaturen freiwillig unter einem Dach schlafen konnte, auch wenn es nur das Autodach war.
Ich lag im Schlafsack, zählte Sterne, genoss den Nachtwind auf der Haut und sang im Geiste Seven Days, mit der Stimme von Joe Cocker im Ohr, denn dass das ein Dylan-Song ist, wusste ich damals nicht; überhaupt wusste ich von Dylan damals noch gar nichts, außer, dass er in grauer Vorzeit “Blowing in the Wind” geschrieben hatte.
Nein, das war gelogen. Nicht absichtlich, aber nach 17 Jahren zeigt auch mein Chronistinnengedächtnis weichgezeichnete Aussetzer. Vorübergehend.
Immerhin hatte ich im Jahr davor auf H’s Party damit geglänzt, “It’s all over now baby Blue” nicht nur dem Autor, sondern auch dem Interpreten (Them featuring Van Morrison) richtig zuzuordnen. Übrigens nach wie vor eine der besten Dylan-Coverversionen überhaupt. Obwohl, selber Song, anderer Zugang, die Falco-Version vom Konzert am Rathausplatz (“und wånnsd’as heast, dånn wast eh wen i man… get us a couple of drinks more please”)… Aber die habe ich erst Jahre später gehört.
Ach komm egal, jetzt mache ich mir ein Bier auf. Muss ja nicht immer alles zusammenpassen. Zum Wohl, allseits.
Wo war ich stehengeblieben?
Einen dieser Tage in die Stadt Kalamata reingefahren, noch ziemlich kaputt vom Erdbeben im Jahr zuvor, also die Stadt, nicht ich. Irgendetwas wollte ich kaufen, oder wollte ich telefonieren, weiß ich auch nicht mehr so recht; was ich noch ganz genau weiß und was seither immer wieder in meinen Träumen auftaucht, ist das Warten an der Haltestelle auf den Bus, der nicht kam, zur angeschriebenen Abfahrtszeit nicht, eine halbe Stunde später nicht und bei Einbruch der Dunkelheit auch nicht; dann marschierte ich los und erreichte gegen Mitternacht zu Fuss völlig erschöpft den Campingplatz. Warum mein Unterbewusstsein diesen Nachmittag so sehr schätzt, dass dieser Marktplatz mit den erdebebenzerstörten Gebäuden und dem goldgelben Sand, Staub, wasimmer, immer und immer wieder in den Traumgeschichten erscheint, kann ich mir nicht vorstellen; aber der Anblick ist mir ebenso traumvertraut wie “meine Stadt”, die ich in Wirklichkeit – wie schon irgendwo erwähnt – bisher nicht kenne.
Wieso mir all das gerade heute einfällt, kann ich mir hingegen vorstellen. Immerhin spricht alle Welt von Griechenland, und das zu einem Zeitpunkt, an dem ich wieder einmal darüber nachdenke, an welchen Punkten mein Leben eine drastisch andere Wendung hätte nehmen können.
Und da war dann eben dieses Angebot von H., der mir die Frage gestellt hatte: Was willst du denn machen? Und, als ich – zumindest in diesem einmaligen Augenblick klar und kompromisslos – geantwortet hatte “Schreiben”, ernst antwortete : “Na gut, dann bleibst du eben hier. Nimm das Dachzimmer, kein Problem, und wo einer leben kann, können auch zwei leben.”
Das wäre nun wirklich eine drastisch andere Wendung gewesen. Stattdessen ging ich, mit meinem üblichen Sphinx-Lächeln, zurück nach Lieboch, nahm ein paar Tage später den Zug nach Wien – und wurde, was ich geworden bin.
Hat mir nie leid getan. Und es tut mir auch heute nicht leid. Aber ich würde mich verdammt gerne mit dieser anderen Andrea unterhalten, die dort geblieben ist. Und erfahren, was sie heute denkt.