20. Mai 2018

Am Rande der Großstadt (Journal #74)

Irgendwie hatte ich zwei Ausflugslüste gleichzeitig: Zum einen, wieder einmal (von mir) völlig unerforschte Gegenden zu bewandern, zum anderen, wieder einmal einen richtigen Flohmarkt, einen untouristischen, unbekünstlerten, halt einfach einen Flohmarkt. Flohmarkt.at spuckte zwei Kandidaten aus, die noch dazu in derselben abgelegenen Gegend, nämlich transdanubisch nördlich lagen. Ich beschloss, den äußeren zuerst anzusteuern, dann könnte man ja, falls der unbefriedigend wäre, noch im Vorbeigehen (oder -fahren, so genau wollte ich mich nicht festlegen) noch den anderen mitnehmen.

Zuerst galt es, den Berg Richtung U-Bahn zu erklimmen, und mein Schrittmesser zeigte, lange vor Beginn der eigentlichen Action, fünf erstiegene Stockwerke an. Dass ich die dann wieder mit der Rolltreppe hinunterfuhr; nunja, das ist so die Natur der U3 in den Hügelbezirken.  Mit der U3 bis Stephansplatz, mit der U1 in die Leopoldau. Ich wunderte mich etwas darüber, dass Google Maps meinte, man könnte noch ein paar Stationen mit dem Bus fahren, wohingegen qando nur ein Sammeltaxi zeigte, fand aber keine Busstation mit den passenden Nummern, und zum Anrufen hatte ich ohnehin keine Lust. Ich gab also die Adresse in Maps ein und wunderte mich gleich noch zwei Mal: Zum einen über die vorgeschlagene Richtung, zum anderen über die Wegzeit von 50 Minuten, weil ich vom vorherigen Blick auf die Karte eher so an 25-30 Minuten gedacht hatte. Aber seisdrum, die Sonne scheinte, der Himmel produzierte vereinzelte Flauschwölkchen, ich hatte die Ewig-Latsch-Sandalen an und eine Flasche Wasser im Rucksack. Es konnte also eigentlich gar nichts schiefgehen.

Während ich so marschierte, links von mir die Bahntrasse, rechts erst Schrebergärten, dann richtige Gärten, wurde mir schnell klar, was da schiefgelaufen war: Ich hatte qando mit der Adresse des einen, Maps aber mit der des anderen Flohmarkts gefüttert, war also so weit wie möglich in Richtung des einen Flohmarkts gefahren, um jetzt in Richtung des anderen zu gehen. Dieser kleine Irrtum hätte sich nun wirklich leicht beheben lassen, es gab da nur ein kleines Problem: Ich hasse es, umzukehren und zurückzugehen. Und wenn es nur ein paar hundert Meter sind. Und außerdem – alles so bunt hier! Auch wenn die Mohnblumen erst einmal hinter Gittern sind.

Ich notierte, oder versuchte es zumindest, ein paar Eindrücke mit der Speech to Text Funktion, weil ich keine Lust hatte, dazu stehen zu bleiben.

Die Luft riecht nicht nach Mai sie riecht nach Juli mindestens wenn nicht August Punkt im Park sitzt einer schon mittags beim dir nicht ungewöhnlich in dieser Gegend ruyada beim Bier nicht bei mir und unglaublich süßer Duft von Blumen die Gärten gepflegt ich würde jemand kommen um sie zu beurteilen als nicht ich. Absatz nein das wird Nixe

Jetzt weiß ich wieder, warum ich die so selten nutze. Vergessen wir das und wenden wir uns den mittlerweile befreiten Mohnblumen zu.

Auf der anderen Straßenseite eine neue Schrebergartensiedlung, und ich grüble wohl einen halben Kilometer weit über deren Namensgebung. Ich meine, natürlich muss man sich sein Mini-Paradies erst schaffen, bevor man es bewohnen kann, aber das – das klingt doch irgendwie schwäbisch.

Mittlerweile hätte ich schon längst unter der Bahn durch sein sollen, aber da, wo Maps mir das Abzweigen nahelegte, war keine Unterführung gewesen, oder vielleicht war sie winzig und ich hatte sie vor lauter Mohnblumen übersehen. Ich beschloss, erst einmal nicht die Karte zu Rate zu ziehen. Irgendwo da ganz vorne verschwanden die wenigen Autos, die mich überholt hatten, nach links. Das wäre dann wohl meine Richtung. Ich fotografierte noch ein paar Mohnblumen.

Und dann andere Sachen, mit Mohnblumen.

Ich weiß selber nicht, warum dieses Aufeinandertreffen von Natur und Industrie immer so eine immense Faszination auf mich ausübt, aber ich glaube, ich könnte den Rest meines Lebens damit zubringen, solche Kontraste zu fotografieren. Gerne auch in schwarzweiß. Nur dann halt ohne Mohnblumen.

Übrigens war da kürzlich ein ganz spannender Artikel über den Schritt von der Schwarzweiss- zur Farbfotografie auf Petapixel, ohne den wäre ich vielleicht gar nicht auf die Idee mit s/w gekommen.

Die Straße war lang, der Weg war weit, und ich begann mich zu fragen, ob „niemals zurück“ nicht vielleicht manchmal doch etwa übertrieben war. Aber da kam dann endlich eine Unterführung. An der Wand ein kiffender Vogel, den ich auch mitnahm. Gab ja sonst nicht so viel abzulichten, außer halt den Mohnblumen.

Die Geleise, die ich bislang links von mir lagen, lagen – auch weiterhin links von mir. Google Maps meinte nämlich, ich soll so abbiegen (ja, ich habe geschummelt), und so traf ich auf den Stacheldraht von damals, der allerdings ganz ohne Sonnenuntergang nicht so eine dichte Suggestivkraft entwickeln kann. Nicht einmal in Schwarzweiß mit bröckeligem Mauerwerk.

Ich nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, dann marschierte ich weiter. Wieder gartelte und schrebergartelte es, irgendwie entzückend die Unterschiede: Wo sich der eine ein Mini-Disneyland hinbaut, begnügt sich der andere mit einer windschiefen Hütte und zwei Gartenliegen. Ich fragte mich, ob daraus schrebergärtliche Konflikte entstehen, und wenn ja, wie die dann aussehen.

Bald sah ich den Bahnhof Leopoldau von der anderen Seite. Der Blumenbewuchs wurde etwas vielfältiger, in der Ferne gab es die ersten Hochhäuser zu erspähen.

Es war ziemlich warm, und ich hatte Lust auf Kaffee. Mein Wasser war lauwarm, mein T-Shirt deutlich zu warm. Trotzdem genoss ich die eigenartige Stadtrand-Landschaft, Schrebergärten auf der einen Straßenseite, Büros und Industrie auf der anderen. Seltsam eigentlich, hätte ich aus irgendeinem Grund diese elendslange schnurgerade Straße entlanggehen müssen, dann hätte ich endlos frustriert daran gedacht, wie viel schöner es jetzt doch am Wasser wäre. Aber ich musste ja nicht; genaugenommen hätte ich jederzeit in die jetzt durchaus wieder nahe U-Bahn einsteigen können, um ans Wasser zu fahren. Also ging ich weiter, jetzt wieder ohne Karte, in Richtung Hochhäuser. Dort würde es ja wohl irgendwo einen Kaffee geben, und vorher noch den Bankomaten, den ich brauchte, um den Kaffee bezahlen zu können.

Zunächst einmal gab es  aber viele Düfte, am öftesten und intensivsten dufteten die kleinen weißen Buschblümchen, deren Namen ich nicht kenne, dazwischen aber auch immer wieder Rosen, ab und zu Grillereiduft, einmal ein ordentlicher Schwall Benzin von einem wohl auffrisierten Moped. Dann noch den Chlorgeruch eines Sommerbades, der einen die Sommergeräusche fast hören lässt, obwohl es heute still war. Heißer Sand vom Sportplatz. Und dann noch ein Haus mit Zitat, das man nur zur Hälfte lesen konnte, wegen der wunderbar wuchernden Vegetation.

Zu Hause nachgeschlagen: Es ist Kafka, den man hier verewigt hat.

Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie.

(Franz Kafka, Tagebucheintrag 1922) (Schöne Hintergrundgeschichte in der NZZ)

Vor Ort, noch ohne den ganzen Text zu kennen, erst einmal beeindruckt davon, dass man Zitate an Wände schreibt und sie dann von grünen Bäumen halb zuwachsen lässt, man sieht das auf dem Foto nicht, aber auch wenn man direkt davor steht, kann man nicht das ganze Zitat lesen. Das ist symbolisch, metaphorisch, einfach ganz wunderbar. Oder ich habe einen beginnenden Sonnenstich und deliriere, heiß genug dazu wärs.

Was mich in die Gegenwart zurückbringt. Kaltes Wasser! Kaffee! Und ein Klo wär vielleicht langsam auch nicht schlecht. Ich frage eine junge Frau nach dem nächsten Bankomaten, sie weist mir freundlich den Weg. Drüben hinter der U-Bahn-Station im Einkaufszentrum.

Das Einkaufszentrum gehört zur Großfeldsiedlung, da war ich schon einmal, vor halben Ewigkeiten, bei einem Ripoff-Konzert. (Ich bin ziemlich sicher, damals irgendwas darüber gebloggt zu haben, aber ich finde nix. Seltsam.) Heute herrscht hier Sonntagsleben, Familien in der Konditorei, Typen mit Bierdosen am Kebabstandl, und endlich ein Bankomat. Die Konditorei ist mir aber zu dicht besetzt, um einen Kaffee zu trinken, Klobedürfnis hin oder her. Ich befrage nochmals die Karte, und 12 Minuten bis zum Ziel, dem Flohmarkt, ist sehr OK. So OK, dass ich erst einmal auf einer Bank im Schatten ein Zigarettchen rauche.

Dann weiter. An einer Tankstelle vorbei, an der Vorstadtjungs ihre Vorstadtautos waschen, als hätte sich seit den 70-er Jahren nichts verändert. Außer den Autos natürlich, die haben sich deutlich verändert. Drüber der Kreuzung ein McDonalds, da kann man gut aufs Klo und die Wasserflasche gegen eine kalte austauschen. Ersteres gelingt, zweiteres scheitert daran, dass ich nicht die geringste Lust habe, mich anzustellen, auch wenn die Schlange nur drei Leute lang ist.

Außerdem ist da drüben ja schon der Flohmarkt, am Parkplatz des besonders großen Möbelhauses. Es ist ein Flop-Flohmarkt, das ist mir schon klar, bevor ich noch ganz da bin. Viel Platz und kaum Leute. Fast hätte ich mehr Lust, den unerwarteten Hügel auf der anderen Straßenseite genauer anzuschauen, aber – wozu war ich denn dann stundenlang unterwegs?

Ich schlendere an den Ständen entlang und spüre deutlich das Ambiente von „Jetzt steh ich schon 6 Stunden da und hab noch immer nix verdient“, das ich so gut von früher erinnere, bevor wir lernten, wie man schon im Vorfeld Flop-Flohmärkte aussortiert. Im Angebot erstaunlich viel Klamotten, erstaunlich wenig Bücher, außer ein paar zweifelhaften (nazi-zweifelhaft). Bisschen Hausrat, viel Kinderspielzeug, Nippes, immerschonbilliger Modeschmuck. Ich erspähe einen Knopf, der gut zu meinem Grünen Stricktuch passt, und daneben noch eine Handvoll Knöpfe, die meine schon seit langem imaginierte Strickjacke, für die ich allerdings noch nicht einmal die Wolle habe, perfekt machen würden. Und dann sind da noch zwei, die mir erst einmal so gefallen. 6 Euro will die Dame dafür, das ist mindestens das doppelte von dem was das Zeug wert ist, und ich hole tief Luft um mit dem Gegenangebot anzufangen, und dann atme ich wieder aus, seufze ein bisschen und bezahle sechs Euro. Zu gegenwärtig ist mir noch das Gefühl, den ganzen Tag in der heißen Sonne herumgestanden zu sein und dabei nicht einmal die Standgebühr verdient zu haben. Aber damit ist natürlich klar, dass ich nicht flohmarktfit bin an diesem Tag, also besser wieder gehen sollte.

Ich nehme meine Knöpfe und hol mir noch ein Sprite am Würstelstand, aus dessen Boxen kelbrigsüßer deutscher Pseudo-Country träufelt, und werde ein bisschen sentimental dabei. Ein paar Stände weiter wollen sich ein paar hauen, wohl weil einer gesagt hat, die Ware des anderen wäre gestohlen. Ich mache einen Bogen und nehme dann doch noch ein Mantelkleid mit, 15 Euro, hätte man mit etwas Geschick sicher um 10 haben können, auch wenn das sichtlich nachträglich angebrachte Etikett etwas von 115 Euro  Originalpreis erzählt. Die 5 Euro, das ist der Kaffee den ich nicht getrunken habe und die Leberkässemmel die ich nicht gegessen habe, das ist schon OK.

Dann kurz unsicher, soll ich jetzt Richtung U-Bahn gehen oder mir doch diesen Hügel anschauen, der in der flachen Gegend höchst deplaziert wirkt? Ich nehme natürlich den Hügel, auf dessen anderer Seite auch noch sowas wie ein Teich sein soll, der Karte nach. Aber der Hügel ist dicht eingezäunt, und die Straße verliert nach ein paar hundert Metern ihren Gehsteig.  Ob da wohl noch was in die Richtung abzweigt, in die ich will, bevor es richtig in die Pampa geht?

Ich lass es drauf ankommen. Schließlich gibt es auch hier wieder jede Menge Mohnblumen zu fotografieren.

Zum Glück finde ich eine Abzweigung. Und dann doch noch etwas anderes zum Fotografieren.

Von dort weg hätte ich dann durchaus einen Bus genommen, hatte mir doch mein Fitnessarmband sowohl für die Schritte als auch für die Stockwerke bereits doppelte Pflichterfüllung gemeldet. Das Schild an der Busstation erzählte aber, dass der Bus hier sonntags nur einmal in der Stunde fährt, und dass er vor 10 Minuten gefahren war.

Und so marschierte ich brav weiter, vorbei an immer neuen Schreber- und sonstigen Gärten, mit Sonntagsdüften und Sonntagsgeräuschen. Vorbei am leeren „Nudelimbiss“, bei dem der Koch mit dem (vermutlich) Kellner alleine beim Bier saß. Vorbei am Parkplatz, auf dem jemand gerade das Autofahren lernte. vorbei an Häusern und Hochhäusern und unendlich vielen lebendigen Leben. Bis zur U-Bahn-Station Rennbahnweg, wo ich mir nicht ganz sicher war, ob ich da jetzt ein Graffiti sehe – oder vielleicht doch mein eigenes erschöpftes Spiegelbild.

Kartenansicht

Natürlich hätte ich dann nicht auch noch vom Karlsplatz zu Fuß heimgehen müssen, aber irgendwie fehlte mir die Lust auf die Straßenbahn zu warten. Und so habe ich dann unerwartet doch noch die 20.000 Schritte geknackt.

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