Alltag revisited

20. Januar 2021

„Worst Case Woman“, mein uralter Superheldinnen-Spitzname aus Graz, lässt sich auf viele Arten interpretieren. Entstanden ist er damals durch meinen Rucksack, in dem sich (fast) immer (fast) alles fand, was anderen gerade fehlte. Ein Taschentuch, eine Wasserflasche, ein warmer Schal, Pflaster, Schraubenzieher, Taschenmesser… – alles da.

Später bezogen Menschen diesen Ehrentitel auf mein „Talent“, bei allem immer den schlimmstmöglichen Ausgang zu interpretieren. Tatsächlich gibt sich mein Hirn gerne als Schauplatz von Reifenplatzern, Feuersbrünsten, eingeschlafenen Lastwagenfahrern auf der Autobahn, Gliedmaßen, die durch Messer oder Schneidmaschinen abhanden kommen, Krankheit, Erdbeben, Hungersnöten, und was sich sonst noch so als Worst Case anbietet. Aber mittlerweile versuche ich, meine Mitmenschen damit weitgehend in Ruhe zu lassen.

Selbst habe ich die Bezeichnung immer auf meinen unerschütterlichen Kern im tatsächlichen Katastrophenfall bezogen. Wenn mir das Leben eine (gefühlte) Katastrophe serviert, oder, wie in diesem Winter, eine ganze Reihe von kleineren und größeren solchen (ein anderer alter Freund würde dazu sagen: „Lauter Schicksalsschläge, und alle in die Gosch’n!“), dann bildet sich inmitten des inneren Chaos ein kleiner, abgeschlossener Raum in mir, in dem ich mich kühl und analytisch um Schadensminimierung und erste Hilfe für mich selbst und, falls zutreffend, andere kümmern kann. Es ist ein Ort, an dem ich mich sehr zu Hause und in eigenartiger Weise sicher fühle. Notwendigkeiten und Prioritäten sind glasklar, danach zu handeln ist einfach.

Wenn der Orkan dann vorbei ist, die schrillen Farben des äußerlich Erlebten verblassen, die Wände meines inneren Kontrollraums sich auflösen, dann… ja, was dann?

Der Alltag war noch nie so ganz meine Welt.

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