Zeit. Reisen.

5. September 2021

Auf dem sonnigen Bahnsteig erzählen Krähen krächzend Geschichten, die nach altem Grantscherm-Gemotzer klingen. Weit oben zieht eine Turboprop ihre Runden. Wie der Motorlärm sich verändert, könnte es eine kreisende Fallschirmmaschine sein, so weit ist der Flugplatz Graz ja nicht weg. Es war ein Wochenende voller Erinnerungen, nur der Bahnhof weckt fast keine mehr.

Umgebaut, modernisiert und mit Park&Ride-Möglichkeiten aus zwei Richtungen ausgestattet, ist nur die Fassade noch (fast) so, wie sie früher war. Dahinter aber steckt kein Restaurant mehr, das ganz ganz früher sogar eine Kegelbahn hatte, dessen BesitzerInnen lange Zeit danach noch für jedes vorbeikommende Kind einen Lutscher hatten, das schließlich später, als ich für Lutscher schon zu groß war, die Möglichkeit bot, ein Eis zu kaufen, mit dem man sich auf der Zugfahrt die Zeit genussvoll vertreiben konnte.

Natürlich wäre heute auch das Essen in diesem Zug nicht mehr erlaubt, schon gar nicht das Eisessen. Dafür dauert die Fahrt nur mehr zwanzig statt früher 35 Minuten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob dieser Tausch ein Fortschritt ist. Ich bin mir bei solchen Dingen in letzter Zeit immer weniger sicher.

The Class of 1985

Grund der Fahrt in den Süden war das Maturatreffen, das 35., das eigentlich im Vorjahr stattfinden hätte sollen, aber durch die Wirren der Pandemie bis jetzt unerfüllt geblieben war. Das Grüppchen am Samstag war kleiner als erwartet, einige Absagen kurz vor dem Treffen. Die Anwesenden durchwegs angenehme Menschen, mit denen man gerne Kontakt halten würde. Wenn, ja wenn das Leben nicht schon so voll wäre. Der Abend lau, nur wenige Verfrorene trugen im abendlichen Gastgarten lange Ärmel. Ich hatte kleine Schwierigkeiten damit, Vergangenheit und Zukunft übereinanderzulegen. Anlässlich des Umzugs hatte ich natürlich auch alte Fotos sortiert, das Wiedertreffen in der Realität machte das Vergehen der Zeit sehr deutlich. Vielleicht, dachte ich, während rund um mich die Handykameras klickten, vielleicht mache ich auch deshalb fast keine Menschenfotos mehr, weil die so unbestechlich darin sind, ebendieses Vergehen der Zeit zu manifestieren. Vielleicht aber sollte man auch nicht zu viel philosophieren, sondern sich stattdessen angenehm unterhalten, was ich dann auch tat.

Auch Graz hat sich immens verändert, stellte ich auf dem Weg ins Hotel fest. Unter der Murbrücke Livemusik, die Brücke voller Liebesschlösser. Kurz dachte ich daran, runterzuschauen und mitzufeiern, spät war es noch nicht. Aber die jazzige Musik klang mir ein Haucherl zu alt, das begeisterte Publikum war ein ebensolches Haucherl zu jung für mich.

Ich hatte schon immer einmal im Hotel Daniel übernachten wollen, doch bisher hatte ich dessen Preise nie mit meiner vernünftigen Seite in Einklang bringen können. Ein Special Deal brachte mir ein Balkonzimmer ebendort, gegen das auch die Vernunft nichts einzuwenden hatte. Auf dem Riesenbildschirm sah ich die Fussballpleite gegen Israel und den Anfang von „I, Robot“, ein bisschen fasziniert, weil Riesenbildschirme so gar nicht zu meinem Alltag gehören. Als die Werbung einsetzte, las ich dann doch lieber noch ein bisschen auf dem gemütlichen Balkon, auch wenn der Straßenverkehr nur mit viel akustischer Phantasie als Meeresrauschen durchgehen konnte.

Ich schlief wie in kuscheligen Sommerwölkchen, vergaß aber am nächsten Morgen, nach dem Hersteller der paradiesischen Pölster und Decken zu fragen. Vor dem familiären Teil des Sonntags war noch etwas Arbeit angesagt, mit Kaffeemaschine am Zimmer gar kein Problem. Als das erledigt war, widmete ich mich dem kaiserlichen Frühstücksbuffet (süßer Nachschlag nicht im Bild). Am Balkon fand ich einen Regenbogen.

Vor lauter entspanntem „Ich kenn mich eh aus“-Überlegenheitsgefühl nahm ich dann den falschen Bus. Also keinen ganz falschen, ans erwünschte Ziel brachte der gewählte mich auch, aber auf verschlungenen Umwegen durch seltsame Gegenden, was etwas mehr Zeit kostete als geplant.

Dann Verwandtschaftsgespräche, neue alte Fotos, Füße auf sonnenwarmem Steinboden und wieder das Gefühl, Vergangenheit und Gegenwart parallel laufen zu sehen.

Im Zug nach Hause noch ein bisschen gearbeitet, ein dreiviertel-leeren Zug dann ein traditionelles Semmeringbier.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Voriger Beitrag

Mikis Theodorakis. Erinnerungen.

Nächster Beitrag

Neue Haare & schöne Tiere

Gehe zuNach oben