Winter

9. Januar 1990

Mein Gott, wie ich den Winter hasse! Die Zeit, in der du, sobald du vor die Haustüre trittst, reflexartig den Kopf zwischen den Schultern wiederfindest, anstatt 20 Zentimeter darüber, wie es sich für einen freien und stolzen Menschen gehören würde. Die Zeit, in der du jeden Tag eine Massage brauchen könntest, weil du die Schultern bei den unaufschiebbaren Erledigungen so hoch gehoben hast, daß du vor lauter Krampf nicht mehr gerade gehen kannst. Die Zeit in der du nichts riechst, weil es zu kalt ist, nichts hörst, weil du den Schal bis über die Ohren gezogen hast, und nichts siehst, weil du in dem verzweifelten Bemühen, keine kalte Luft zwischen Jackenrand und Schalanfang eindringen zu lassen, das Kinn ständig an die Brust gepreßt hältst, die Zeit, in der du nichts etwas schmeckst, weil du permanent mit tropfenden Nase und rauhem Hals gesegnet bist. Eine gefühllose Zeit, denn die Kälte begnügt sich nicht damit, dich zu überfallen, wenn du aus dem Haus gehst, nein, sie belagert und umschleicht das Haus, und unweigerlich gelingt es ihr einzudringen, dazu braucht sie nicht einmal die in Wien ohnehin häufig sich anbietenden undichten Fenster und Türen, durch die der Wind mit einem Geräusch pfeift, das dem Heulen eines rettungslos heiseren Schloßgespenstes gleicht, dazu genügen ihr die Wände, die im Winter immer viel zu dünn sind, wie dick sie auch sein mögen.

Also machst du dich auf die Suche nach Wärme, und was würde sich anbieten, noch dazu in dieser Stadt, wenn nicht die allgegenwärtigen Kaffeehäuser, dorthin flieht alles im Winter, alles rennet, rettet, flüchtet und findet sich wieder in einem Kaffeehaus, mit einer Tasse auf dem unweigerlich viel zu kleinen Tisch, allein, zu Zweit, in kleinen Gruppen: die alten Damen, die alten Herren, die beinahe-schon Sandler, die Yuppie-Aufsteiger, die letzten der wahren Revolutionäre, harmlose Studenten und vertrocknete Jungfern, Chefs, Sekretärinnen, Huren. Im Kaffeehaus treffen sich alle auf der Suche nach Wärme, und mitten dazwischen du, genauso durchfroren, der erste große Schwarze ist schon in deinem Magen, der zweite halb geleert, zum dritten wirst du dir einen Cognac bestellen, bevor der Koffeinrausch einsetzt mit seinen delirium-tremens-ähnlichen Symptomen.

Sitzt also da, vordergründig mit einer jener Zeitungen beschäftigt, deren angebliche Wichtigkeit du fraglos akzeptierst, weil nur der durch sie gegebene Anschein von intellektueller Hirnwichserei dich schützt vor jenen Subjekten, die es sich in den Kopf gesetzt haben, ihre winterliche Einsamkeit partout mit jemandem teilen zu wollen, mag die oder der Auserkorene nun wollen oder auch nicht. Liest aber nicht oder doch: kaum noch, ein Satz hie und da, ein Wort, das aus dem ansonsten immer mehr verschwimmenden Buchstabengewirr den weiten Weg bis in dein Hirn schafft, ein Pferdeapfel unter lauter Fliegenscheiße, dem es gelingt, die Gedankenkette zu unterbrechen, die wie schon so oft in deinen Ganglien Ringelreihen tanzt.

„Wer bin ich?“ ist der Ausgangspunkt, und unwillkürlich rekapitulierst du: Den zweiten Teil der wilden 60er gerade eben noch als schreiendes Kleinkind miterlebt, hie und da auch mit glänzenden Augen unter dem Weihnachtsbaum, in den psychedelischen 70ern dann eingeschult, nachmittags aber immer wieder zwischen den Großen, denen, die noch studierten, denen, die vom ersten, zweiten oder dritten Indientrip wiedergekommen waren (vom vierten kamen nur noch wenige zurück) und Fotos gemacht hatten oder auch nicht, aus Prinzip nicht; zwischen denen, die immer etwas von einer besseren Gesellschaft zu erzählen hatten (die einzige Gesellschaft, die du damals gekannt hast, war die Elektrizitätsgesellschaft) und denen, die sagten, man müsse endlich realistisch denken; zwischen denen, die nicht ganz ehrlich aussahen, wenn sie meinten, die RAF ginge zu weit, und denen, die sagten, so etwas schade nur der Bewegung (und „Bewegung ist gesund“, sagte deine Großmutter zu dir); zwischen denen, die aufs Land zogen, unbrauchbare Gefäße töpferten und nur noch Pullover aus reiner, kratzender Schafwolle trugen und denen, die mit leuchtenden Augen von einem neuen Zeitalter sprachen und die Computer meinten.

Zwischenzeit, schon damals, die einen kamen zurück, die anderen zogen aus, und die dritten, nun, die waren gar nicht losgegangen, belächelt von den beiden anderen Sorten, die sich nichtsdestoweniger am liebsten auf den Grillparties der Dritten trafen. Mit acht die Baader-Meinhof-Bande gegründet, auf dem Schulhof, und ersten Feminismus geübt, indem du dich geweigert hast, auf dem Hof die Rückkehr der Buben zu erwarten. Die Mädchen durften eine Zeitlang Spähtrupps gründen, bis die Mütter das verboten, denen die dreckigen, zerrissenen Hosen der Buben genug zu schaffen machten.

Danach hast du etwas enttäuscht zu Karl May gewechselt, allen Erwachsenen widerstanden, die versuchten, dir pädagogisch wertvollere Lektüre in die Hand zu drücken, und nicht begreifen können, wie jemand angesichts des großen Winnetou die Brauen runzeln konnte. In dieser Zeit hast du begonnen, die schönen Kleider abzulegen, in die man dich gesteckt hat, und nichts mehr angezogen als Jeans und T-Shirts.

Die 80er hatten noch nicht begonnen, als du ins Gymnasium kamst, Internat, versteht sich, diesmal nicht: Zwischenzeit – sondern Zwischenwelt. Hast dich damals schon abgesondert, eine unverständliche Vorliebe für Latein entwickelt, zuerst, dann, als die anderen im Schlafsaal Disco spielten und vom Wochenende träumten, an dem sie endlich Ihren Freund wiedersehen würden, die längst veraltete Edith Piaf gehört und von dem einen geträumt, der ganz anders war, noch später allerdings der Liebe vor dem ersten Versuch den Rücken gekehrt, weniger deshalb, weil dich deine Großmutter bei jedem Besuch ermahnte, von den Männern fernzubleiben, weil die ja doch nur das eine wollten, vielmehr: weil wahre Helden einsam sind. Und Held wolltest du sein, geschlechtslos wenn möglich.

Danach hast du die UNI unsicher gemacht, bald aber, enttäuscht von alleden scheubeklappten Strebern, die mit Politik nichts am Hut hatten, nicht einmal mit der naheliegendsten, dich aus dem Staub gemacht und anderswo ein letztes Paradies gefunden, mit Leuten, die – so dachtest du damals – wie du zu intelligent fürs studieren waren, die ersten Joints geraucht, Nächte verdiskutiert und dich dem Blues ergeben, hingegeben, ach, und endlich Sex.

Die Uni aus den Augen verloren, statt dessen Jobs, mal gut, mal schlecht, ein paar Mal bist du raus aus diesem Land und hast „ganz natürlich“ irgendwo am Meer gelebt, für ein paar Wochen, Monate, doch das war immer sommers und immer waren da andere wie du.

Und dann, dann hat die Zeit sich überschlagen, ein Job wie der andere, hast in den einen oder anderen politischen und grünen Verein hineingeschaut, doch die waren alle kurzlebig, so labil wie dein verlorenes Paradies, und genausowenig Heimat wie deine Untermietzimmer.

Und heute sitzt du also da, liest profil, die Zeit, konkret, so durcheinander wie sie eben auf den Kaffeehaustischen liegen, und fragst dich, was du jetzt wohl bist. Nicht so berühmt wie die Jelinek, nicht so tot wie Romy Schneider, doch ganz bestimmt nicht so ein Arschloch wie diese Tussy da drüben, im Schneiderkostüm, das Handy malerisch am Tisch plaziert, rührt sie seit 3 Minuten in der Mokkatasse und starrt dabei angestrengt in den „trend“, ohne daß ihre Augen sich bewegen, ein Musterbild versetzter Yuppie-Feminität.

Du seufzt und greifst zum Telefon, rufst die Freundin an, die mit der Gitarre, ob sie nicht heute kommen will, du könntest Wein kaufen, ein netter warmer Abend, mit Musik, Gedichten, na, wie wär´s damit? Doch nein, die ärmste, sie ist frisch verliebt, alle zwei Monate passiert das, zwei Wochen Glück, sechs Wochen „nie mehr wieder“, bis zum nächsten Mal. Du wirst aufs nächste Treffen noch zehn Tage warten müssen, vier Tage kennen sie sich schon.Kurz denkst du noch darüber nach, wen du noch fragen könntest, gibst aber auf: Die anderen leben alle viel zu sehr in der Zeit, müssen dieses, sollen jenes, fragen dich, ob du den Film gesehen, die Ausstellung besucht hast, das brauchst du nicht. Du brauchst ein Wesen, mit dem du aus der Zeit fallen kannst, platsch mitten hinein ins nirgendwo.

Du gehst nach Hause, durch die Kälte, dort wartet ein Buch. Sitzt mit der Decke auf den Knien ganz nah beim Ofen, die Katze schnurrt heran und läßt sich auf dir nieder, das läßt dich hören, wie still die Stille ist. Das Buch schon halb vergessen fragst du dich ob du spinnst. Du gehst zum Radio, drehst es auf, horchst ein Weilchen. Dort läßt ein Roland seine Anita grüßen und bittet sie, ihm zu verzeihen, weil er sie doch so liebt. Ob denn der Song ihr gar nichts mehr bedeuten würde? Und schon preßt hektisch Hip-Hop in den Raum, quellen prügelnde Bässe aus den Lautsprechern, rapt ein Möchtegern-Streetgang-Junge paranoid von Revolution, unterstützt von hysterisch kreischender Weiblichkeit im Hintergrund. Zuviel. Abdrehen.

Der Fernseher vielleicht? Doch da grinst Peter Alexander seine Show, der Fendrich ist auch da, und dich erdrückt eine Vision von hunderttausend Frauen, die mit feuchten Höschen vor dem Fernseher sitzen, vom Rainhard geknutscht werden wollen die jüngeren, dem Peter tief in die Augen sehen die Omis. Jetzt singen sie auch noch ein Weihnachtslied, die Verführer der Nation, und du fragst dich, wie du hier leben kannst, im Land des Musikantenstadels.

Du hast wohl den Faden verloren, denkst du, die, die ganz anders waren, sind allesamt verschwunden, und mit dem, was du da siehst, hast du nichts gemeinsam. Nichts. Da ist sie nun, die Weihnachtsdepression.

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