Vollmondfieber

10. Januar 2001

Das war ein schlimmer Anfall von Vollmondfieber gestern Nacht, und ich fürchte, es ist noch nicht vorbei. Natürlich bin ich nur die die ich immer bin, aber meine Ohren hören ein bisschen mehr, meine Augen sehen ein bisschen mehr, und meine dicke Haut ist ein kleines bisschen empfindlicher. Da reicht dann ein harmloser Satz…

…ein harmloser Satz, wie “es sind nur noch 3 Wochen bis zum Urlaub”, und ganze Kamelherden donnern durch die endlose Sandwüste meines Gehirns und verschwinden in einem blutroten Sonnenuntergang.

Als wäre diese Cinemascopevision noch nicht Alltagsablenkung genug, sitzt ein kleines Teufelchen ganz oben auf der höchsten Düne und sagt: “jaja, nur noch 3 Wochen bis zum Urlaub, und noch drei Wochen später bist du wieder hier im kalten grauen Wien. Sag Mal, wolltest du nicht einmal die Welt entdecken? Mit einem Jeep die Seidenstrasse entlang fahren? Auf der Harley von Alaska hinunter bis nach Feuerland? Zu Fuß einmal rundherum ums Mittelmeer?”

Dann sagt es nichts mehr, das Teufelchen, legt nur den Kopf schief auf unverschämt junge Art und Weise und grinst überlegen, so, dass ich mir uralt vorkomme, so als wäre für mich das alles schon vorbei.

… oder…

Ich treffe einen alten Freund in einem einstigen Stammlokal. Natürlich kommt er etwas später, denn ich bin notorisch pünktlich, und das lässt den Gedanken Zeit, sich durch längst glattgestrichene Gehirnfurchen zu graben, mit welchen Menschen ich denn dort schon gesessen bin, welche Ideen und Träume an diesen Wänden hängen und unter diesen Tischen begraben liegen…

Ich zünde mir eine Zigarette an der Kerze an und der Geist einer längst verlorenen Freundin schreit auf: “Nicht! Jedesmal wenn du das tust, stirbt ein Seemann!” – und trotz meiner Aberglaubenlosigkeit läuft mir ein Schauder über den Rücken, und in einem anderen Winkel meines Chronistinnengehirns klopft Tante G. (der Nichtvorhandene habe sie selig!) 3x auf Holz und sagt: “Ich glaub zwar nicht an sowas, aber man kann ja nie wissen…” – “Das muss ja eine tolle Kerzenlichtparty gewesen sein, die die Mannschaft dieses russischen U-Boots auf dem Gewissen hat!” ruft das Teufelchen von der Sanddüne.

Da kommt aber dann endlich der alte Freund, und mitten in der größtenteils geschäftlichen Besprechung fällt ein ganz harmloser Satz…

… ein ganz harmloser Satz wie, “weisst du eigentlich, dass es bald 10 Jahre her ist, seit wir das erste Mal hier gesessen sind?” und die 10 Jahre erstrecken sich ins Endlose, wie das gespannte Gummiband einer Steinschleuder, kurz bevor man sie losläßt, und dann lasse ich los und die ganzen 10 Jahre ballen sich zu einer Kugel, alle Einsamkeiten, alle Zweisamkeiten, alle Worte und jedes einzelne Schweigen, jedes Gesicht, das ich geliebt, gehasst, verachtet oder verehrt habe, alle Träume, alle Erfolge und alle Enttäuschungen…

… treffen mich in konzentrierter Form mitten auf die Schläfe, und das versetzt mich unversehens zurück zu jenem Kindheitsnachmittag, an dem vom Jahr zweitausend die Rede war, ich weiss nicht mehr warum…

… und jemand fragt mich: “Was wirst du wohl sein im Jahr 2000?” – Und weil ich gerade rechnen gelernt habe, rechne ich schnell und sage: “Im Jahr zweitausend bin ich 34 Jahre alt” – und die Erwachsenen nicken wohlwollend, weil ich richtig gerechnet habe, und jemand sagt: “Dann bist du wohl erwachsen.” – Und ich sage: “Ich glaube, wenn man sich erinnern kann, was vor 10 Jahren war, ist man erwachsen.” Und jemand fragt: “Und was ist, wenn man sich 20 Jahre zurückerinnern kann?” – Und ich sage: “Dann ist man schon alt”, und ringsum herrscht betretenes Schweigen, nur Tante G. lacht herzlich und sagt etwas wie: “Wie sich die lieben Kleinen das so schön vorstellen!”…

[now playing: Ripoff Raskolnikov – Live im Cafe Saitensprung]

Und es ist gut, so wie es ist, und ich fühle mich wohl, so wie ich bin … aber … wollte ich denn jemals dahin wo ich jetzt bin? … und aber und … hätte es denn besser sein können, dort, wo ich hin wollte? oder auch nur genauso gut? das einzige, was mich stört, was in mir kocht, ist, dass ich das nie wissen werde… dass man nur einen einzigen Weg gehen kann von den vielen, die man sieht, und nie wissen wird, durch welche Landschaften die anderen geführt hätten.

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