Schon lang nicht mehr getagebucht

1. Dezember 2004

Es war eine seltsame Nacht heute, vollmondig irgendwie, obwohl der doch längst vorbei ist. Zwischen den – durch lautes Türknallen unterstrichenen – Klogängen der hustenden Nachbarn (ungefähr halbstündlich) döste ich in einem überschärften Bilderreigen, als hätte ich eine seltsame neue Droge probiert. Das einzige, was ich tatsächlich probiert hatte, war eine Pizza mit Sommergemüse drauf. Vielleicht war es ja die Rache der Pizzagötter, weil so viel Gemüse auf einer richtigen Pizza nichts zu suchen hat.

Als mich um 4:16 eine weitere zugeknallte Tür aus dem Cockpit einer kleineren Cessna riss, die ich selbst geflogen war, während der Pilot den Flugplan ausfüllte, beschloss ich, heute nicht um 8 Uhr zum Heilturnen zu gehen. Das Heilturnen heißt natürlich “Rehabilitationsgymnastik in der Kniegruppe”, aber als letztens eine Mitturnerin mit slawischen Akzent “Ich bin jetzt Heilturnen” in ihr Handy flüsterte, habe ich das Wort sofort adoptiert. Heilturnen um 8 Uhr hieße aber: aufstehen um 6:45, und das hätte bedeutet, nach bestenfalls 2,5 Stunden richtigem Schlaf in Kontakt mit der feindlichen Umwelt zu treten – und was zu viel ist, ist zu viel. Außerdem kann ich ja zu Hause auch Heilturnen, und die Bewertung meiner Fortschritte muß einfach bis zum nächsten Termin warten.

Ich stellte den Wecker um, so, dass ich rechtzeitig anrufen konnte, um mein Nicht-Kommen zu kommunizieren, und machte mich wieder auf die Suche nach der Mitte des Schlafs. An seinen Ausläufern wechselte ich aber erst einmal das Flugzeug und zog mit der Skyvan über die Lande, diesmal nicht im Cockpit, sondern als Passageuse mit eiligem Auftrag. Als zwei Abfangjäger mit österreichischem Kennzeichen auftauchten und punktgenau erst den einen, dann den anderen Motor vom Flügel schossen, war ich halbwach genug, um zu verstehen, dass nur wieder einmal eine Klotür geknallt hatte. Ich wünschte den Nachbarn geistig gute Besserung – offenbar haben sie zusätzlich zum Husten eine böse Darmgrippe – nahm aber trotzdem einen Fallschirm, um dem schwer beschädigten Flugzeug zu entkommen. Ich wählte den großen, um sanft zu landen, weil ich ja mein Knie nicht abbiegen kann. Der zufällig ebenfalls mitfliegende Tandemmaster schnallte meinem nichtspringenden Begleiter das Tandemgeschirr und sich selbst den Fallschirm an (mein Unterbewusstsein ist manchmal erschreckend realistisch) und fauchte mich an, weil ich Schwierigkeiten mit dem Öffnungsmechanismus der Tür hatte (wirklich unnötig realistisch). Wir sprangen und sahen das Flugzeug im wirbelnden Schneesturm verschwinden (nicht sonderlich realistisch) und dann sah ich das Tandem sowohl von oben als auch vom Boden aus sauber landen, nicht aber meine eigene Landung, die aber gut gewesen sein muss, weil ich dann schon dabei war, den Schirm zu packen. Der Tandemmaster stand daneben und nörgelte an meiner Packweise herum, während der Passagier versuchte, das Erlebnis soweit zu verdauen. Jetzt wäre die falsche Zeit, um mich zu belehren, sagte ich dem Tandemmaster, denn wer immer versucht hätte, uns vom Himmel zu schießen, würde sicherlich auch am Boden nach uns suchen… da fiel der erste Schuss. Der natürlich keiner war, sondern – Überraschung! – schon wieder die Klotür.

Dummerweise war ich jetzt nicht mehr nur halb- sondern hellwach. Ich überlegte, hinauszugehen und den Nachbarn eine Lektion in “ziviles Türenschließen, Stufe eins” zu geben. Ich ließ es aber bleiben. Nicht, weil ich so nachsichtig bin oder die Nachbarn zu gern hätte, auch nicht aus Angst – sondern einfach, weil mir um diese Uhrzeit der Gedanke an Kommunikation (und sei es auch ein einfach gebrülltes “Könnt ihr die Tür nicht leise zumachen, ihr Arschlöcher?”) schlimmer ist als alles andere. Ja, ich bin seltsam.

Ich fragte mich, was mit der motorlosen Maschine im Schneesturm wohl in Wirklichkeit passiert wäre, kam zu keinem Ergebnis, stand auf, rauchte eine Zigarette, checkte die Postfächer (die natürlich, vom Spam mal abgesehen, leer waren), überlegte, ganz ohne Schlaf doch zum Heilturnen zu gehen, verwarf den Gedanken wieder, las über blogg.de das Tagebuch einer depressiven Grundschullehrerin, bis ich zu frieren begann und wieder ins Bett ging. Die ganze Zeit über war es nebenan völlig ruhig gewesen. Kaum löschte ich bei mir das Licht, begann drüben das Gehuste wieder. Während ich darüber nachdachte, wieso ausgerechnet das Leben einer depressiven Grundschullehrerin mit seiner tristen Gleichförmigkeit in mir ein bisschen Sehnsucht nach einem gutbürgerlichen Leben auslöste, knallte die Tür drei Mal. Dann irgendwann schlief ich ungestört, endlich.

Als ich gegen acht die Abteilung Heilturnen anrief, klang meine Stimme wie die von Joe Cocker nach einer sehr langen Nacht. Die Dame im Hörer wünschte gute Besserung und empfahl ungefragt Salbeitee mit Honig. Ich korrigierte ihre Annahme nicht, legte auf und ließ den Vormittag ohne mich vorübergehen. Einmal kratzte etwas an meinem Bewusstsein, ungefähr wie ein schneeschaufelnder Hausmeister, aber das muss wohl eine falsche Assoziation gewesen sein.

Die Strafe für solch frivoles Faulenzen folgt natürlich auf dem Fuss, dringliche Emails in dreifacher Ausführung, mehrfache Nachfragen auf allen bekannten Kommunikationskanälen, nichts wirklich Wichtiges, aber heute hält ja jeder alles für wichtig; man hat sich da schon so daran gewöhnt, dass es normalerweise kaum mehr auffällt. Dazu allgemeine Mattigkeit und das monatliche Bauchgrummeln – als hätte das nicht bis morgen Zeit gehabt.

Als ich endlich alle kleinen lästigen Tasks erledigt hatte und einkaufen gehen konnte, begann es schon abendzudämmern. Draußen am Gang roch es nach frischgebackenem Schokoladekuchen. Auf der Treppe zum Dachboden malerisch schräg hingeworfen ein abgenutzter Besen – fallengelassen, als wäre sein Benutzer Hals über Kopf geflüchtet. Wovor nur? Haust oben unter dem Dach etwa Trude, die Teufelstaube?

Vor dem Fenster, gegen den Wienerwald hin, ein dichtes Leichentuch aus Nebel. Sah aus, als würde es näherkommen. Ich wollte es nicht wirklich genauer wissen und humpelte, mittlerweile in annehmbarer Krückengeschwindigkeit, hinunter zur Trafik und dann zum Supermarkt. Dass man mich in letzterem des Diebstahls der c’t bezichtigte, die ich in Wahrheit in der Trafik gekauft hatte, wunderte mich kaum mehr. Nach diesem Tag.

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