Insektenmenschen

14. Oktober 2002

Die Stadt ist ganz leer, von einem Virus leergefegt, das seltsame Dinge anstellt mit den Menschen, sie halten sich für Insekten, zuerst, tagelang, und klettern die Wände hinauf, fressen Scheiße und kopulieren wo immer sie gerade sind, laufen mit starren Augen umher und verstecken sich dann in hintersten Schrankecken, sterben schließlich elend unter seltsamen Verrenkungen. Ich öffne den Sicherungskasten, weil der Strom weg ist, da pickt schon wieder einer, eklig verschrumpelt, aber man gewöhnt sich an alles.

Wer jetzt noch lebt, noch keine Anzeichen der Krankheit trägt, braucht wohl keine Angst zu haben: Muss auf irgendeine unerforschte Weise immun sein gegen das Virus. Unerforscht, weil auch die Wissenschafter selber gestorben sind, buchstäblich: Wie die Fliegen.

Ich gehe durch das leere Haus, in dem ich alleine wohne, man gewöhnt sich an alles. Da, auf der Terrassentür kleben auch zwei, wo die nur herkommen, man sieht sie immer erst wenn sie tot sind. Die Stadt ist dunkel bis auf die Straßenbeleuchtung. Wir Überlebenden fragen uns, wie lange die Dinge wohl noch funktionieren werden, ob genug von uns übrig sind, um die Maschinerie in Gang zu halten.

Mir wird ganz einsam und ängstlich plötzlich: man gewöhnt sich an alles, aber nicht ganz. Ich will den Putztrupp anrufen, mit dem ich täglich die unmittelbare Nachbarschaft säubere; man kann sich nicht um alles kümmern, nicht wahr, aber zumindest so weit das Auge reicht.

Ich finde die Telefonnummern nicht, werde panisch: Müßten sie nicht eigentlich längst hier sein? Hat es sie vielleicht doch noch erwischt? Und all die anderen? Bin ich vielleicht die letzte Überlebende mit klarem Verstand?

Da läutet es an der Tür, nicht mein Putztrupp, sondern entfernte Bekannte. Während er mir erklärt, in ihrer Straße sei der Strom weg, und das Wasser deshalb auch, umarme ich ihn, richtig klammernd, und stammele etwas wie “noch nie so froh gewesen einen lebenden Menschen zu sehen”. Er tätschelt verlegen unbeholfen meine Schultern, ja, er kennt das Gefühl, sagt er, während seine Frau lächelnd dahinter steht.

Klar könnt ihr hierbleiben, sage ich, vielleicht erstmal hier im Haus, und wenn der Putztrupp kommt sucht ihr euch einfach eins der Nachbarhäuser aus, sobald wir es geräumt haben. Er repariert schnell die Satellitenschüssel: ich hatte gedacht, sie senden einfach nicht mehr, dabei war nur die Antenne schief vom letzten Sturm.

Nachrichten gibt es nicht mehr, erklärt er, nur einen blassen Ansager, der sich von Konserve zu Konserve hangelt, lauter lustige Filme und Musikparaden, wohl zur Beruhigung des Volkes. Welches Volkes könnte man fragen; aber wenn nichts mehr zu machen ist, dann kann man wohl nur noch beruhigen.

Dazwischen immer wieder das winzige Filmchen mit den Vorsichtsmaßnahmen, lachhaft, eine Papiermaske soll man tragen und nichts berühren, draußen, und wenn man doch etwas berührt hat, mit Desinfektionsmittel duschen; alle haben sich daran gehalten und jetzt sind alle tot.

Dann kommen die anderen 3 vom Säuberungstrupp, wir ziehen schon lang keine Schutzanzüge mehr an und keine Papiermasken, wir müßten schon lange tot sein und leben doch und keiner kann uns sagen, warum. Wir holen die Leichen aus den Ecken, stecken sie in Säcke und ziehen sie auf Leiterwagen an die dafür ausgeschriebenen Abholplätze; die Lastwägen kommen auch immer seltener, aber sie kommen noch.

Wo die Autos bloss alle geblieben sind, haben wir uns gefragt, kein einziger Privatwagen zu sehen in dieser Stadt, wo es sonst doch nie Parkplätze gegeben hat, aber jetzt fragen wir uns nicht mehr: Man gewöhnt sich an alles. Auch wenn es praktischer wäre als diese Leiterwägen.

Wenn alle Insektenmenschenleichen draußen sind, wird das Haus desinfiziert, da braucht man dann doch einen Atemschutz, das Zeug verätzt sonst alles. Dann weiter zum nächsten Haus; wir hören den Hubschrauber und verstecken uns schnell: Aus dem Hubschrauber erschießen sie die Kranken, zum Schutz für uns alle, wie es im Fernsehen hieß, aber bald war klar, dass die Unterscheidung zwischen krank und gesund aus dem Hubschrauber wohl nicht so leicht fällt.

Dann ist das Tagespensum erledigt, und ich lade alle zum Essen ein; alle Geschäfte stehen offen und Konserven gibt es reichlich, für viele Jahre. Wir sitzen um den Tisch und reden sehnsüchtig vom Frühling, dass wir dann alle weiter an den Stadtrand ziehen und Gemüse und Obst ziehen wollen in den Gärten, damit man nicht immer Dosenfutter essen muss.

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