Hände. Schritte.

12. Februar 2010

Sie steht neben mir und flüstert. “Deine Hände, komm gib mir deine Hände”, im Tonfall eines Mantras, das seine Bedeutung längst verloren hat. Sie spricht nicht zu mir. Wir sind alleine. Ich habe eine Ahnung, wie er aussieht, der, zu dem sie spricht, blond ist er und froh und nicht ganz von dieser Welt. Nicht wie ein Engel: wie ein Bergbewohner vielleicht, oder ein Pilot, oder sonst jemand, der gewohnt ist, die Dinge aus der Entfernung zu betrachten.

“Komm, lass uns gehen” sage ich und will gar nicht. Einen Augenblick scheint es, als würde sie stattdessen auf das Brückengeländer steigen, ich sehe es, wie sie die Arme ausbreitet, der Wind in ihrem Haar, wie sie springt ohne zu fallen und davonfliegt stattdessen, Richtung Osten, wo bald die Sonne aufgeht.

Sie steigt nicht. Sie springt nicht. Sie fliegt nicht. Sie lächelt ein kleines Lächeln, als wüsste sie genau, was ich denke, greift fast nach meiner Hand, geht dann neben mir, Richtung Süden. Dort, wo bald die Sonne aufgeht, wird der Himmel schon rot. “Ich bin du” sagt sie und spricht jetzt doch zu mir. “Nein.” sage ich.

Von dort, wo bald die Sonne aufgehen wird, kommt ein Schwarm Vögel. Sie zwitschern hell, es klingt wie das Glitzern von Sonne auf einem kleinen Bach. Sie fliegen über uns, drehen einen Halbkreis. Es sieht aus, als würde der Schwarm über uns stehen. Dann verschwinden sie, Richtung Stadt.  “Ich bin eine Schwalbe” sagt sie. “Nein.” sage ich, und dann: “Außerdem waren das keine Schwalben, sondern etwas anderes. Stare vielleicht. Oder Finken. Keine Ahnung.” Sie denkt nach. “Ich bin.” sagt sie dann.

Das kann ich stehenlassen. Als wir das Ende der Brücke erreichen, legt sich der Wind. Der wunderbare Wind, der nach Wasser schmeckt und nach der Ferne. Ich möchte umdrehen, aber wir gehen weiter. Richtung Stadt. Es wird langsam heller. Die Straßen sind leer. “Weißt du noch”, sagt sie, es ist keine Frage. “Was?” – “Früher”, sagt sie, “früher.”

Früher waren die Straßen niemals leer. Früher war es immer Nacht. Eine gute Nacht, eine bunte Nacht. Eine laute Nacht. Jetzt ist es ganz still. Nur das leise Kratzen unserer Schuhe auf dem Asphalt. Ich bleibe stehen, sie dann auch. Es ist ganz still.

“Kalt!” sagt sie, und ich nicke. Eine Kälte, die anders ist als die Abwesenheit von Wärme. Weiß wie Schnee. “Komm, lass uns gehen”, sagt sie, und wir gehen. An fremden dunklen Fenstern vorbei. Unsere Schritte kratzen auf dem Asphalt. Die Straßenlampen gehen aus, als das Licht in die Stadt kriecht. “Zum Bahnhof?” fragt sie. “Wir könnten die Züge anschauen und so tun, als würden wir in den Süden fahren. Wir könnten…, wir könnten in den Süden fahren.” – “Den Bahnhof gibt es nicht mehr.” sage ich. Die Schritte kratzen. Sie flüstert. Ich höre ihre Worte kaum, aber ich kenne sie. Ein Text zur Percussion ihrer Schritte. Die Hände. Die Hände ohne Namen.

Mir scheint, ich bin zu grob gewesen. “Sei nicht traurig”, sage ich. “Ich bin nicht traurig.” sagt sie. “Es gibt immer einen Bahnhof. Irgendwo.”

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