Glas, Stahl, Flammen und Sehnsucht

17. Dezember 2005

Ich telefoniere mit dir. Du bist mehr als einer, aber weniger als drei. In dieser glasstählernen Zukunftsstadt sitzt du in einem Cafe vor diesem neuen Riesenturm, schwarzes Glas und transparentes Glas, unglaublich sieht das aus, sagst du, und die Sonne ist schon recht warm, es ist Frühling. Mit der U-Bahn fahre ich hin. Die U-Bahn eine Magnetschwebebahn in runden, ungewohnt glatten Röhren. Die Stationen kleine Städte unter der Erde. Oben ein Markt mit bunten Hippieklamotten, “So schön retro” lachen zwei junge Mädchen, die Arm in Arm an mir vorüberstrahlen. Der Platz ist gepflastert, keine Autos, von oben vervielfachen die gläsernen Fassaden die Strahlen der Sonne, alles sehr sauber, aber gar nicht kalt. Den neuen Turm sieht man von weither; auch dich sehe ich, als ich den Platz betrete, lässig in Lederhosen und weitem Hemd, einen Eiskaffee unberührt vor dir. Unterm Tisch ziehe ich die Schuhe aus, die sonnenwarmen Steine rauh und echt unter meinen Sohlen. Wir reden leichthin; silberner Rauch steigt auf aus Zigaretten. Der Espresso wird in winzigen Gläsern serviert.

Dann gehen wir in den Turm, fahren nach ganz oben mit dem Lift, der auch aus Glas ist, glatt und dunkel, kühl. Sind es 110 oder 120 Stockwerke? Die Zahlen fremdartig, wir können sie nicht lesen. Folgen verwundert den erhabenen Schriftzeichen mit zögernden Fingern.

Von oben kann man hinuntersehen, innen, in dem Rund, um das Geschäfte und Büros angeordnet sind, und außen auch: wir stehen auf im Freien auf der Balustrade, die rundherum geht. Hand in Hand, immer noch diese klare Skandinaviensonne, ein leichter Wind. Nichts könnte schöner sein, nichts einfacher in diesem Moment. Wir und die Welt.

Dann ein seltsamer Ton, dunkel und hart: und auch die Stadt wird dunkel, von Westen her. Die Dunkelheit steigt auf wie eine Wand. Wir verstehen nicht. Dann doch. An der Unterseite der Dunkelheit züngeln Flammen, sie sehen winzig aus, müssen aber riesig sein. Weit weg. Das Dunkle kommt näher, sehr langsam, aber bedrohlich in seiner Breite. Wir schauen nach Süden. Auch dort wird es langsam schwarz, auch dort wabern orange Flecken, die Feuer sein müssen.

Jetzt sind sehr viele Menschen auf der Balustrade, alle schauen, zeigen. Eine Tagespresse-Journalistin, burschikoser Blondhaarschnitt, schubst uns herum, will immer gerade dort sein, wo wir sind. Wir sollten gehen, sage ich. Es kommt näher. Du nickst, hast aber nur Augen für das Blondchen. Komm, sage ich, flirten kannst du ein anderes Mal. Das hier ist ernst. Nehme deine Hand und ziehe dich hinein in den Turm, endlose Schlangen vor den Liften, Chaos im Treppenhaus, endlose Stufen hinunter, viel zu heiß brennt die Sonne durch das Glas, jetzt, wo man laufen muss. Die Wolke kommt näher, jetzt kann man schon verschiedene Grautöne unterscheiden, das ist nicht gut. Gar nicht gut.

Wir finden die einzige U-Bahn-Linie, die in die andere Richtung fährt, weg von der Schwärze. Sehr voll, ernste Gesichter. Wir fahren bis zur Endstation, alle, und gehen dann einen Berg hinauf; einen karstigen, gletscherrundgeschliffenen, hochalmgrünen Berg. Die Menschen um uns wälzen abstruse Theorien zu dem Großfeuer. Jetzt bist du es, der nach meiner Hand greift. Obwohl Blondchen schon wieder um uns herumschwirrt.

Oben am Gipfel sitzen wir, an sonnwarme Steine gelehnt. Unten bleibt alles unwartet ruhig. Keine Sirenen, keine Einsatzwägen. Wir sehen zu, wie sich die flammende Schwärze auf das Zentrum zuschiebt, von dem wir jetzt weg sind. Weit weg. Weit genug.

Ich suche nach Wasser, zwischen den Steinen. Finde eine Quelle. Muss ein bisschen streiten mit einem, der glaubt, das Wasser verkaufen zu können. Das Wasser gehört dir nicht, sage ich zu ihm, das Wasser kommt aus dem Berg. Die Umstehenden applaudieren.

Ich trinke, dann bringe ich dir auch etwas davon. Blondchen hat meinen Platz eingenommen, aber dann springt sie wieder auf, ist mal hier, mal da, kritzelt in ihren Block, spricht in ein Mikro, verdeckt unter der Jacke, achtet darauf, dass niemand sie hören kann. Blondchen ist lächerlich, und sie ist nicht gut für uns. Gar nicht gut. Es wird Nacht. Unten einzelne Lichtinseln, wo das Feuer brennt. Sie verlöschen, eine nach der anderen. Jetzt ist es sicher, wieder hinunter zu gehen.

Es ist ein anderer Weg, als der, auf dem wir gekommen sind. Er führt woanders hin. An einem wilden Bergbach entlang, über Steine und Holzstiegen. Mal bist du da, mal nicht. Blondchen nervt mehr und mehr.

Unten ist ein anderes Stück Stadt. Alte Steinhäuser, um die sich Efeu rankt. Unebenes Kopfsteinpflaster. Es wird schon wieder hell, langsam. Der Kellner eines Frühcafes, der gerade den Gastgarten fegt, lässt sich überreden, uns Kaffee zu bringen. Du schaust mich an, sehr ernst. Berührst mit der Hand meinen Unterarm, ganz leicht. Sehr vertraut. Sagst mir, dass du es jetzt mit Blondchen versuchen musst. Musst!  Als wäre es ein Auftrag. Ein Stück Arbeit.

Es ist ein tiefer Schmerz in mir. Noch nie habe ich etwas so Wertvolles verloren. Nie wieder wird etwas so einfach sein wie das, was zwischen uns war. Blondchen hat eiskalte Augen. Ich schaue in deine und weiß, dass du den Verlust auch empfinden wirst, irgendwann: ebenso stark wie ich. Für einen Augenblick ist das das Schlimmste daran.

Ich gehe, abwärts durch die alten Gassen. Drehe mich nicht um. Höre das Blondchen trocken lachen. Dann endlich um die Kurve. Die U-Bahn-Station ist offen und voller Menschen, als wäre nichts passiert. Nur einige Stationen sind ausgestrichen auf den Plänen. Dort kann man nicht aussteigen, denn die sind meterhoch mit Brandschutt überzogen. Meine ist nicht darunter. Ich steige in den letzten Wagen ein.

Zu viele Fahrgäste. Es soll noch ein Wagen angehängt werden, damit sie alle Platz finden. Der neue Wagen schießt aus dem dunklen Tunnel, dockt aber nicht am Ende des Zugs an, sondern schlingert um unseren Wagen herum und hängt parallel zu uns am vorletzten. Ich hänge mich aus der Türe, um den Uniformierten auf das Problem aufmerksam zu machen. Er hört und sieht mich nicht. Der Zug fährt los, beschleunigt. Die Notbremse, rufe ich, die Notbremse! Selber kann ich sie nicht erreichen, weil ich in der Tür eingeklemmt bin, und die anderen Passagiere finden sie nicht. Ich schaue nach vorne und seh die Tunnelwand näher kommen, immer schneller. Nebeneinander werden die Wagen nicht in den Tunnel passen, und niemand hat die Notbremse gezogen. Gleich werde ich sterben.

[Stattdessen aufgewacht. Zum Glück.]

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