Geschichtenterror

24. Juni 2001

Du bist spät ins Bett, weil du noch dieses und jenes tun wolltest, und das auch noch, damit so viel wie möglich erledigt ist an diesem erstaunlich freien Tag, der nicht nur frei ist von Arbeit, sondern auch frei von Freizeit, ein Zwischentag.

Dann aber schickst du dich endlich ins Bett, müde, das warme Weich erscheint dir wie ein Paradies, und zum Säuberungsritual vor dem Aufstieg in dein Hochbett musst du dich mit Engelszungen überreden, weil ein Teil von dir viel lieber drauf verzichten würde zugunsten dieser 10 Minuten früher flach.

Dann aber, endlich, bist du in deinem Adlerhorst, die Nacht, die durchs offene Fenster hereinkriecht, ist viel zu kalt, das merkst du erst, als unter der Decke die Wärme wiederkommt, und du schwimmst dahin und genießt die Schwerelosigkeit zwischen Wachen und Schlaf, und bald, bald wird es nur noch Schlaf sein, und dann ist alles gut.

Wäre beinah Schlaf geworden, wäre beinah gut geworden, wenn da nicht diese Geschichte wäre, die sich schon den ganzen Tag in deinem Kopf erzählt, und du hast gewusst, du solltest sie aufschreiben, damit sie blasser wird, damit sie ihre Macht über dich verliert, aber es war nicht die Zeit dazu, die Geschichte ist auch morgen noch da, hast du gedacht, nur irgendwie hast du gewusst, dass du sie aufschreiben müsstest, damit du endlich wieder stärker bist als sie.

Aber du hast sie nicht aufgeschrieben, deshalb ist sie die stärkere, und sie wächst noch immer und blüht auf mit diesen Sonntagnachtgeräuschen, die durch das offene Fenster kommen, mit dem Wind, der die Allee vor dem Fenster besucht, mit den wenigen Autos, die auf den Straßen ringsum durchs Wochenende rollen, und sie wird immer bunter und wahrer, und sie wird Traum und wird wieder Geschichte, das wiederholt sich, bis du nicht mehr sicher bist, was denn nun Traum ist und was Geschichte, wo das Wachen aufhört und der Schlaf beginnt. Und du bist ein bisschen ärgerlich zuerst, weil sie dir den Schlaf raubt, und dann bist du nicht mehr ärgerlich, sondern nur mehr eine kleine, hilflose Gefangene der Wörter, dankbar, wenn dieser Geiselnehmer deiner Gedanken freundlich mit dir umgeht, und voller Angst, wenn er unerwartet grob wird.

Die Geschichte:

Die Geschichte beginnt in hohen, hellen Amtsräumen, es riecht sauber und alles atmet Macht und Sicherheit, und nein, du gehörst nicht hierher, du hast hier nur Formulare auszufüllen und zu unterzeichnen.

Nein, falsch:

Das wäre keine Geschichte. Nicht die hochnäsig freundlichen Gesichter um dich, nicht das raschelnde Papier und auch nicht die Änderungen, die das Papier mit sich bringen könnte, aber nicht muss, vielleicht wäre auch das eine Geschichte, aber es ist keine.

Die Geschichte beginnt mit der Explosion.

Die Explosion ist nicht dort, wo du bist. Für dich ist es das Telefon, das explodiert, mitten in der erhabenen Stille, ein bisschen peinlich und sehr störend, nein, in so eine Atmosphäre passt kein Handyläuten, man hätte es rechtzeitig ausschalten müssen, man hätte es erst gar nicht mitbringen dürfen, so wenig, wie man es in die Oper mitbringen würde.

Unter den vorwurfsvollen Blicken derer, die in dieser Welt zu Hause sind, drückst du schnell den grünen Knopf, damit der Lärm aufhört, und du hoffst, dass es ein Gespräch ist, das du schnell beenden kannst, du hältst das Gerät ans Ohr und da ist eine aufgeregte Stimme, die etwas erzählt von einem Unfall und von einer Explosion und dass man eigentlich noch gar nichts genaues weiß, außer dass etwas explodiert ist und er wird dich wieder anrufen, wenn es mehr Informationen gibt.

Er ist auch nicht dort, wo die Explosion ist, er ist in der Redaktion, er ist ein Kollege, ein Newsjunkie, der die Agenturmeldung gesehen hat und sofort gewusst hat, dass dich das etwas angeht, obwohl doch kaum etwas drinnenstand in dieser Meldung, und nein, er meint es nicht böse, er meint es gut, er ist überzeugt davon, dass es ein gutes Werk ist, Information zu verbreiten, auch solche, je früher wir Dinge wissen, je mehr Dinge wir wissen, desto besser können wir mit der Welt umgehen, davon ist er überzeugt, deshalb ist er Journalist, und er ist ganz und gar Journalist.

Und er würde nicht verstehen, niemals würde er verstehen, dass du ihn hasst für seine Newsjunkie-Art, dass du seine Stimme hasst, die bei Sensationen und Katastrophen höher klingt als sonst und leicht gepresst, und wenn es eine wirklich große Sache ist, dann wird diese Stimme noch höher und noch dünner bis sie geradezu fröhlich klingt, es ist die Erregung, da ist eine Story, eine große Story, die muss raus, das ist sein Lebensinhalt.

Und du hasst ihn in diesem Moment, als er dir von dieser Explosion erzählt, ich dachte du solltest es wissen, sagt er, scheint ziemlich schlimm zu sein, die Agentur hat eine Alarmmeldung ausgeschickt, naja, ciao, ich muss jetzt schauen, dass ich die Story rauskriege, und er legt auf, und die zwei, drei Besetztzeichen an deinem Ohr lassen die Explosion, die durch seinen Mund in deinen Kopf gewandert ist, farbig aufstrahlen, und dieser Film läuft wieder und wieder ab, wie in einer Sportübertragung, wenn ein Formel 1 Wagen wieder und wieder in die Leitplanke kracht, bei jeder Wiederholung etwas langsamer, bis die wichtigsten Sekundenbruchteile in Einzelbildern auf dem Bildschirm stehen bleiben, und gleichzeitig denkst du, dass du diesen Kollegen deshalb hasst, weil du selbst nah dran warst so zu werden: Nein, weil du selber so warst, für kurze Zeit nur, aber du warst so, hast richtiggehend gehofft auf solche Meldungen in den langen, einsamen Stunden der Nachtschicht, hast es geliebt, wenn die Trägheit des Journaldienstes plötzlich in die Aufgeregtheit eines Ameisenhaufens überging, und du hast auch dich selber gehasst dafür, deshalb hast du damit aufgehört, und diesen Kollegen hasst du, weil du ihn verstehst.

Die Explosion in deinem Kopf hat sich mittlerweile auf den ganzen Körper ausgebreitet, wie eine Anästhesiespritze kriecht sie von der Einstichstelle überallhin, lähmt dich und lässt gleichzeitig Haut und Muskeln kribbeln, du merkst, wie sich die Körperhaare aufrichten, du hältst die Luft an und bist dabei, ohnmächtig zu werden, da sagt eine Stimme mit betont unterdrückter Ungeduld: Können wir jetzt weiter machen?

Auch das eine Explosion, eine weiße, kalte, und einen Moment lang glaubst du, du müsstest diesen Mund schlagen, der das sagt, du möchtest Blut sehen, es würde gut zu den Bildern in deinem Kopf passen, du siehst, wie deine Hand zur Faust wird und mit aller Kraft in diesem unbeteiligten Gesicht landet, du siehst Zähne fliegen und Haut aufplatzen, der Amtsmensch schaut dich fragend an, auch die anderen schauen dich fragend an, du atmest tief durch und die Amtshandlung geht ganz normal weiter.

Draußen, auf der Straße, fragt man dich, wieso du so blass bist, man denkt, die Geschichte mit den Papieren hätte dich so mitgenommen, man legt dir eine Hand auf die Schulter und erklärt dir noch einmal, dass das für dich nur Vorteile bringt, du versuchst, etwas zu sagen, aber die Worte schaffen es nicht, zwischen den Bildern durch bis zu deinem Mund zu kommen, man spricht weiter begütigend auf dich ein, du entziehst dich der Hand auf deiner Schulter und gehst einen Schritt zurück und sagst es schließlich doch, kurze, knappe Sätze, Halbsätze, die wiederholen, was die Telefonstimme in dein Ohr geschüttet hat, du hörst deine eigene Stimme, fremd, flach, und siehst das Erschrecken in den Augen der anderen, und das macht dich wütend, denn sie haben nicht zu erschrecken, sie haben damit nichts zu tun.

Und du überlegst, wie du sie los wirst, du willst alleine sein, du musst alleine sein, bis die rotglühenden Explosionen in deinem Kopf in sich zusammenfallen, du willst die tröstenden Worte nicht hören, die jetzt schon kommen, wie Messer schneiden sie in deine Haut und machen alles nur noch schlimmer, aber wie das erklären, wenn die Worte nicht aus dem Mund kommen wollen, wenn sie verbrennen im Feuer der Explosion?

Schon wieder dieses Handy, diesmal bist du dankbar, es verschafft dir Zeit, du suchst zuerst in den falschen Taschen, es ist keine Nummer am Display, das ist ein gutes Zeichen, du bist fast sicher, wer das ist, es gibt nur einen, der dich mit versteckter Nummer anruft, mit ihm ist gut reden, du hebst ab aber er ist es nicht.

Stattdessen jemand, den du schemenhaft gesehen zu haben glaubst im Flammenmeer der Explosion, ich bin so froh, dass du anrufst, sagst du, es ist kein Satz, den du zu ihm sagen könntest an einem anderen Tag, und es dauert ein paar Sätze lang bis du verstehst, an seiner Reaktion, an seinem verwirrten Nachfragen, dass er gar nicht dort war, dass er gar nichts weiß, er wollte doch nur eine Frage stellen, weil du dich mit Computern auskennst, er kann nichts anfangen mit deinen Halbsätzen, mit deiner aufgeregten Erleichterung.

Du wirst ruhiger: Ob es nun an der Stimme liegt, die du gerne hörst, oder daran, dass du es ihm vorsichtig sagen musst, weil diese Explosion viel näher an seinem Leben ist als an deinem, du erzählst es ihm, leise, zögernd, bist ein paar Schritte zur Seite gegangen, als dürften die anderen es nicht hören, obwohl sie es ohnehin schon gehört haben. Er weiß immerhin, wer dort gewesen sein könnte und wer ganz bestimmt nicht.

Dann ist das Gespräch beendet, und dir fällt ein, dass du ja Menschen anrufen könntest und fragen, aber der Gedanke ist weit weg, zu groß die Angst, dass jemand das Telefon nicht abnehmen könnte, dass jemand die falschen Namen sagen könnte, lieber still bleiben und nicht wissen, noch nicht wissen, und du steckst das Telefon wieder ein.

Die anderen stehen unschlüssig herum und warten auf dich, aber gerade eben jetzt schaut niemand in deine Richtung, und das gibt dir die Gelegenheit, in einer Gruppe amerikanischer Touristen zu verschwinden, bis um die nächste Ecke, und du weißt, dass du das nicht tun solltest, aber du tust es trotzdem, es gibt einen Platz wo du jetzt sein kannst, einen einzigen in dieser Stadt, und dorthin gehst du, das Handy läutet wieder, aber du ignorierst es jetzt, genug davon, du schaust nicht einmal, wer es ist.

Dann erreichst du den Park, ein paar Schritte noch, da ist der Baum, alles ist leichter jetzt, weil du alleine bist, das Flammenmeer fällt in sich zusammen und hinterlässt eine scharfe, kalte Klarheit, die nur dir alleine gehört. Und wieder dieses Handyläuten, du nimmst das Gerät aus der Tasche und wirfst es in weitem Bogen in den Ententeich, das Läuten reißt ab, fast glaubst du, ein leises Zischen zu hören, ein Pärchen, das gerade Hand in Hand vorbeispaziert, schaut dich erschrocken an, du versuchst zu lächeln, drehst dich dann schnell um.

Der Baum, den vier Leute mit gestreckten Armen nicht ganz umfassen können, ihr habt das ausprobiert, damals, der Baum steht da wo er stehen soll, und das ist gut. Jedesmal, wenn du diesen Weg gehst, hast du Angst, dass der Baum eines Tages nicht mehr da sein könnte, und jedesmal, wenn du vorbeigehst, gehst du die paar Schritte vom Weg über die Wiese und legst deine Handfläche an den Baum, manchmal verstohlen, weil du nicht willst, dass die anderen es sehen, manchmal auch betont, ritualisiert, wenn jemand dabei ist, der es verstehen könnte.

Und der Baum erkennt dich, dessen bist du dir ganz sicher, der Baum begrüßt dich, und deine Handfläche auf seiner Rinde ist Kommunikation, der Baum erinnert dich, und du teilst ihm mit, was du in der Zwischenzeit erlebt hast, ganz einfach so, im Bruchteil einer Sekunde, und manchmal kommst du dir ein bisschen dumm vor, weil das natürlich nicht so sein kann, aber das macht nichts: Es ist so.

Aber heute nicht. Der Baum spürt deine Gegenwart und rauscht freundlich mit seinen Blättern, er erwartet die Berührung und ist erstaunt, als du dich setzt, zwischen diese beiden großen Wurzeln, die meterweit über der Erde dahinkriechen, bevor sie darunter verschwinden, du setzt dich hin auf diesen Platz, der immer der gefragteste war, damals, als ihr noch viele wart, zwischen den Wurzeln hat nur einer Platz: oder zwei, die sich sehr lieb haben. Man sitzt wie in einem Lehnstuhl, und genau das machst du jetzt, legst deine Hände auf die Wurzeln, lehnst den Rücken an den Stamm, und der Baum ist erstaunt, aber er freut sich, heißt dich willkommen auf sein ruhige, grüne Art.

Und ohne dass Zeit vergeht, weiß er, was passiert ist, und er wiegt dich in seinen Wurzelarmen und nimmt dir die Bilder ab und singt dir leise etwas vor in diesem weichen, blättergrünen Halbdunkel.

Und bald wird er mehr wissen, denn er schickt seine Boten aus, Vögel und Insekten, oder sind es Baumradiowellen unter der Erde, er wird dir mehr sagen können als dein Handy es gekonnt hätte, das wird nicht lange dauern, und bis dahin unterhält er dich mit seinen Erinnerungen an die alten Geschichten.

Er bietet dir Wein an, aus seinen Vorräten, die Flasche, die ihr damals verschüttet habt, als ihr zu dritt hier wart, du erinnerst dich? Das Blätterrauschen lächelt. Drei Münder und sechs Arme und einer davon hat die Weinflasche umgestoßen, aber das war egal, ihr wart so besoffen voneinander… den Wein habe ich aufgehoben, flüstert er, in meinem Wurzelkeller, ein Glas habe ich leider nicht, aber das macht doch nichts?

Es macht nichts, du bist es zufrieden, lässt dich ein auf die alten Geschichten, die Gegenwart verschwindet, sie kann dir nichts mehr anhaben, nicht hier: Unter deinem Stammbaum.

Jemand hat Gitarre gespielt denkst du, und der Baum wiederholt die Melodie, mit all ihren zögerlichen Fehlern, der Baum vergisst nichts, so wie du nichts vergisst, und deshalb muss er stehen bleiben, muss auch dann stehen bleiben, wenn du nicht mehr bist, damit nichts vergessen ist, wenn deine eigene Erinnerung verfault.

Und damals, als du im Nebenbaum gesessen bist, um einen Blick zu erhaschen auf jemand, den du unbedingt lieben wolltest. Es fällt dir schwer, dich an ihn zu erinnern, nur seine Augen weißt du noch. Die Augen, es sind immer die Augen. Dunkel, so dunkel, dass sie schwarz erschienen außer im hellen Sonnenlicht.

Und dann, sinniert der Baum, viel später, als du nicht mehr bei mir gewohnt hast, auch nicht im Sommer. Als du so lange weg warst. Als niemand mehr wusste, dass ich mich erinnere. Ich dachte du würdest nie wieder kommen. Ich dachte, du wärst glücklich. Da war eine Möwe, die hat dich am Meer gesehen. Sie hat gesagt, du wärst glücklich.

Du kommst zu dir. Die Distanz zu dir selber verlässt dich. Du wirst zum ich.

Es war eine lange Reise, sagen meine Hände dem Baum. Eine lange, schöne Reise. Aber natürlich bin ich zurückgekommen. Ich komme immer zurück. Auch wenn ich gar nicht will.

Wir sind zusammen still, der Baum und ich. Es herrscht Frieden. Nur ganz weit hinten hin und wieder der Feuerschein von der Explosion.

Bevor sie näherkommen kann, schickt mir der Baum eine andere Erinnerung. Danach bist du mit deinem Spiegelbild gekommen, rauscht er mit all der Zärtlichkeit, die ich damals empfunden habe. Ihr seid hier im Gras gelegen und habt euch alles erzählt mit eurer Haut, was man mit dem Mund nicht sagen kann.

Er spürt, wie ich unruhig werde. Nein, sagt er, natürlich nicht. Entschuldige. Auch ich träume manchmal. Und er schickt mir ein Bild, wie wir damals hier vorbeigegangen sind, mein Spiegelbild und ich, nicht Hand in Hand, aber so nahe nebeneinander, dass sich unsere Fingerspitzen bei jedem Schritt berührten, jedesmal ein kleiner elektrischer Schlag, und wir sind langsam gegangen und vorsichtig, um genau diesen Abstand, diese Nähe zu behalten, so dass jeder Schritt ein kleines Fest war.

Und ich habe nicht gewagt, die paar Schritte zum Baum hin zu tun, ich wollten diese scheue Illusion nicht verwirren, hatte Angst, dass er verschwinden könnte in der Zwischenzeit. Später erst bin ich heimlich zurückgekommen, als wir im Cafe gesessen sind und Eiskaffee getrunken haben, die Sonne im übernächtigen Gesicht und den Kopf so frei, da bin ich die paar Schritte zurückgegangen zu dem Baum, so als hätte ich unterwegs etwas verloren, und habe im Vorbeigehen mit der Hand am Stamm entlanggestrichen, das musste genügen, das hat auch genügt, und der dunkle, der wölfische, der scheue hat hinter seiner Sonnenbrille nichts bemerkt.

Und später, als die Sonne weg war, als die Sonnenbrillen überflüssig waren, seine Augen und meine Augen, die gleiche Farbe, die gleiche Form, er eine andere Inkarnation von mir, wir hatten beide Angst, was daraus werden könnte, er mehr als ich, und danach haben wir uns nie mehr wieder angeschaut. Nur mehr von fern.

Der Feuerschein am Horizont wird schwächer. Es kann nicht wirklich passiert sein, denke ich. Es kann nichts wirklich Schlimmes passiert sein. Der Baum gibt mir recht. Er spürt meinen Freiheiten nach und meinen Stacheldrahtzäunen. Er ist neugierig, dieser Baum, er braucht meine Bilder aus der Welt genau so sehr wie ich seine unbewegte Stille brauche.

Willst du wirklich gegen diese Mauer laufen, fragt er. Warum? Meeresfarben, sage ich, meeresfarben und himmelsfarben. Und eisgrau.

Wieder schweigen wir.

Von neuem erfahre ich, wie es ist, hier zu stehen, Tag um Tag und Jahr um Jahr, ich weiß es, wie ich es vor langer Zeit schon gewusst habe, und er erfährt wieder von mir, wie es ist, sich fortzubewegen, wie die Welt sich an dir vorbeibewegt im gehen und im fahren und im schwimmen, und etwas Neues erfährt er: Wie Menschen fliegen, und er nimmt auch das auf in sein Gedächtnis und vergleicht es mit dem, was die Vögel ihm erzählt haben, das ist ähnlich aber auch ganz anders, er läßt mich teilhaben an seinem Vogelwissen, und das dauert eine Weile, es gibt so viele Vögel, und dann schweigen wir wieder.

Wir schweigen so lange bis es gut ist, der Baum lässt mich wissen, was ich lange schon weiß, dass es ohne Bedeutung ist, all diese Augen, seegrün, schwarz, himmelsfarben oder spiegelbildbraun, so schön, so wahr und so unwichtig, auch die Hände, ob sie nun zögernd, wie unabsichtlich aneinander vorbeistreifen, ob sie fest zugreifen oder unruhig auf meinen Schultern liegen, ob sie hastig alles erforschen oder sich langsam vortasten oder ganz ruhig auf dem Tisch liegen bleiben, als gäbe es gar keine Neugier, all das ist schön und menschenwichtig aber ganz und gar bedeutungslos vor der Zeit, die alles gleichgültig in sich hineinfrisst, die uns alle leben und sterben lässt, ganz ohne Emotionen.

Es hat gar keine Explosion gegeben, versteht der Baum und grüßt nebenbei den vorbeiziehenden Wind. Es hat keine Explosion gegeben und kein Amt und keine Telefongespräche, das alles ist gar nicht passiert. Du hast nur einen Grund gebraucht, um hierherzukommen. Einen Gedanken, der dich zu mir trägt. Obwohl du ganz woanders bist.

Ich spüre, wie ich ihn verliere. Nicht, sage ich. Warte noch. Es ist so schön.

Er hält mich in seinen unbewegten Wurzelarmen, und lange Zeit sind wir nur da und voller Liebe: Füreinander. Und für die große gleichgültige Welt.

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