Der Mann, der meine Englisch-Matura gerettet hat

17. Januar 2005

Walter Ernsting, der unter seinem SF-Schreiber-Pseudonym Clark Darlton die Perry-Rhodan-Reihe mit begründet hat, ist gestorben.

Das macht mich jetzt halb-sentimental, denn Perry Rhodan hat mir immerhin das “sehr gut” meiner schriftlichen Englisch-Matura gerettet. Und das kam so:

Zu den unzähligen Büchern und Heften, die ich als Kind wahl- und anleitungslos verschlungen habe, gehörten auch die von meinem “Onkel” (der in Wirklichkeit nur ein Freund der Familie war) jährlich kisten- oder sackweise angeschleppten Perry-Rhodan-Hefte. Die sehr verächtlich so genannten “Romanhefte” gehörten im “Lern-g’scheider-kochen”-Universum meiner Großmutter zu den absolut verzichtbaren roten Tüchern (Bücher standen da etwas – wenn auch nicht viel – besser da), und waren daher bei mir natürlich besonders begehrt. Mein Großvater war da weniger streng und ließ mich immer vorher wissen, für wann der Onkel angekündigt war. Dann wartete ich frierend (weil das immer im Winter war) am Gartentor, nahm den Schatz in Empfang, gab dem “Onkel” einen flüchtigen Kuss auf die Wange, lief los und suchte ein Versteck dafür, möglichst schnell – bevor er dann an der Haustür klingelte (und ich unweigerlich herbeigerufen wurde, um ihn offiziell zu begrüßen). Keller war gut (auch wenn die Hefte nach 2-3 Wochen dort einen muffigen Geruch annahmen); das obere Stockwerk war weniger gut (weil das, damals von meiner Mutter bewohnt, regelmäßig von meiner Großmutter auf Verbotenes durchsucht wurde);. Der Legokasten war ganz OK, solange keine SchulkameradInnen zu Besuch kamen, und das beste überhaupt – aber das habe ich erst sehr spät geschnallt – war die Kommode für die “gute” Tischwäsche, die wurde nämlich im Allgemeinen nur zweimal im Jahr geöffnet, einmal (Anfang Dezember), um die Spitzendeckchen zu waschen, zu bleichen, zu stärken und zu bügeln, ein zweites Mal ein paar Tage später, um sie für ein weiteres Jahr in den Dämmerschlaf zu legen. Aber ich schweife ab.

Ich fand jedenfalls über Jahre hinweg immer wieder einen Weg, die Hefte an meiner Großmutter vorbeizuschmuggeln und so diversen Diskussionen a la “Die kriegst du erst wieder, wenn du in Schönschreiben wieder auf eins stehst” aus dem Weg zu gehen. Dann las ich sie, eins nach dem anderen, unter der Bettdecke, und wenn der Nachschub zu lange auf sich warten ließ, las ich sie auch schon zwei Mal, sommers auch im Apfelbaum.

Viele Jahre später – mittlerweile schwebte ich literarisch im Niemandsland zwischen den französischen Existentialisten, Hermann Hesse und der Beat-Literatur – stand plötzlich und trotz acht Jahren Vorbereitung völlig überraschend die Matura an. Ich beschloss schon im Vorfeld, keinen Lernaufwand auf die englische Literatur zu verwenden, denn bei der schriftlichen Englisch-Matura würde ich ohnehin das “freie Thema” nehmen – hatte ich doch sämtliche “freies-Thema” Schularbeiten in der ganzen Oberstufe problemlos auf 1 geschrieben. Ich machte mir Sorgen über diverses, aber um die Englisch-Matura machte ich mir keine Sorgen.

Bis ich davor saß. Ich überflog die ersten zwei Themen – Themen-Themen – in denen es einmal um den amerikanischen Bürgerkrieg, einmal um die Bedeutung von Shakespeare für die Entwicklung der modernen Literatur ging, und erreichte schließlich das freie Thema, das da lautete: “Wie stelle ich mir die Welt im Jahr 2020 vor?”

Ich fühlte mich zutiefst verraten. Hatte ich nicht im Vorfeld erstklassige Abhandlungen zum Nihilismus abgeliefert? Beckett und Stoppard so parodiert, dass die darauffolgenden Lobeshymnen mir beinahe peinlich waren (mir ist schnell etwas peinlich, und damals war es noch schlimmer)? Wie konnte da jetzt plötzlich ein Zukunftsthema stehen, wo sich doch das letzte halbe Jahr darum gedreht hatte, dass es gar keine Zukunft gibt – und dass sie, falls es sie doch gibt, völlig irrelevant ist?

Ich lutschte an meiner Füllfeder und überlegte, ob ich mit Shakespeare durchkommen könnte. Mir fiel genug Hintergrund ein, aber so ganz ohne Daten würde es dann doch nicht abgehen. Ich wusste keine Daten. Alle um mich herum schrieben fieberhaft. Ich lutschte weiter an meiner Füllfeder. Der amerikanische Bürgerkrieg kam nicht in Frage. Darüber wusste ich ziemlich genau gar nichts.

Die Aufsichtsperson, nicht ident mit unserer begeisterungsfähigen Englisch-Professorin, wurde aufmerksam und fragte: “Na, Andrea, stimmt etwas nicht?” – “Ich entwerfe ein Konzept” antwortete ich indigniert – und hatte noch immer nicht den geringsten Plan.

Um nicht weiter aufzufallen, malte ich langsam und bedächtig das Thema auf die erste Seite meines Blocks. Und als ich so an der zweiten “2” von “2020” malte, fiel mir plötzlich Perry Rhodan ein.

Und das ermöglichte mir, den Aufsatz zu schreiben, in dem ich – als alte Frau – erzähle, was zwischen 1990 und 2020 passiert ist: Dass nämlich ein beherzter und weit sehender Mann die Staaten der Erde gerade noch “united” hat, bevor der dritte Weltkrieg auf der einen und Umweltverschmutzung auf der anderen Seite die Menschheit in ein sicheres Grab befördert hätte; dass – nachdem derselbe beherzte Mann Korruption, Neid und Missgunst durch ein großherziges Sozialprogramm eliminiert hatte – die Aufmerksamkeit der Welt auf Erforschung und Eroberung des Weltraums zum allgemeinen Wohl gerichtet war, und wie und mit welcher Technik das alles bewerkstelligt wurde – das alles kam kerzengerade aus den Perry-Rhodan-Heften meines Onkels. Ich schrieb und schrieb, fast zwei Mal so viel Text wie verlangt war, und hatte am Ende gerade noch Zeit, einmal schnell drüberzulesen und die Flüchtigkeitsfehler zu eliminieren.

Dann ging ich, etwas light-headed, von dannen: im Bewusstsein, eine verdammt gute – wenn auch geklaute – Geschichte geschrieben zu haben, auch wenn sie vermutlich unter “Thema verfehlt” abgehandelt werden würde, weil eben die Überschrift einen Haufen “if-thens” und sonstige Konditionalsätze nahelegte, die ich so alle nicht geliefert hatte. Ich hatte mich ja direkt in die Zukunft projeziert.

Zwei Tage später, als ich gerade von der Latein-Matura zum Mittagessen schlurfte (auch eine nette Geschichte, aber halt eine andere) fing mich die Englisch-Professorin vor dem Lehrerzimmer ab und gab ihrem Bedauern darüber Ausdruck, dass sie keine Möglichkeit hätte, diese Arbeit besser als mit “Sehr Gut” zu benoten. Diese Fantasie! Und die Umsetzung! Sekundenlang überlegte ich, den Story-Klau zu gestehen, begnügte mich dann aber damit, bescheiden zu erröten (na gut, das hätte ich ohnehin nicht verhindern können).

In diesem Moment nahm ich mir fest vor, die ganze Geschichte an den Verlag zu schreiben und mich, quasi, dort für mein “Sehr Gut” zu bedanken. Hab ich natürlich nie getan. Und jetzt ist es irgendwie auch zu spät.

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